Vorab: Ich bin in die Liebenzeller Mission hineingeboren worden, da meine Eltern praktizierende Mitglieder waren: Als Kind erlebte ich oft tiefe Ängste vor ewiger Verdammnis, vor Entrückung der wahren wenigen 100%igen Christen und als Kind zurück gelassen zu werden in der danach prophezeiten apokalyptischen Endzeit, dauernde Schuldgefühle und Verbote bei banalen "weltlichen" Dingen wie Lust auf Fußballverein oder Lust sich an Karneval zu verkleiden und mitzuspielen. Richtig übel wurde es in der Pubertät: Druck sich ständig zu Jesus zu bekennen und zu missionieren, aufdoktruierte fundamentalistsiche Dogmen zu vertreten, mit Schuldgefühlen, Verboten und Unterdrückung belegte aufkeimende Sexualtität. Um unter diesem Verdammnisdruck nicht zusammenzubrechen, fingen die Jugendlichen in Selbstverleugnung und Verwindung an, Dinge zu bezeugen und zu missionieren und innerlich war die Angst und der Gewissensdruck riesig, weil die Diskrepanz zwischen dem, wie man sein musste und was vertreten werden musste, zu dem, wie es innen aussah, immens war (Angst von Gott nicht angenommen zu sein, nie gut genug zu sein, gequält von aufgepressten Schuldvorstellungen und Schuldgefühlen z.B. in Kontakt mit der aufschiessenden Sexualtiät).
Wie ich da einigermaßen rausgekommen bin? Ein Aspekt: Mit 17 kannte ich die Bibel besser als der Prediger. Ich habe sie durchgepflügt von vorne bis hinten. Ich habe versucht in der Tiefe Jesus zu erfassen, zu erfühlen, zu verstehen und natürlich (weil man das ja musste) zu kontaktieren. Und so paradox das klingen mag: er hat mich tatsächlich befreit. Befreit von fundamentlistischem Bibelmissbrauch, befreit von einem Gottesbild, angeblich liebend und alle auf alle Ewigkeit verdammend und in der Hölle quälend (die schlimmsten Diktatoren der Weltgeschichte können so teuflisch nicht sein!), die sich nicht missbrauchen lassen für diesen Seelenmissbrauch. DAS ist sehr dunkle Magie; im angeblichen Namen der christlichen Religion! Jedenfalls konnte ich "mit seiner Hilfe" langsam Schritte aus diesem fundamentistischen Schlamassel gehen.
Dass ein Mensch und sein Herz und seine Seele so sein/werden kann, ist ein weit größeres Wunder, als dass ein angeblicher Gott sich in einen Menschenkörper hineingebähren lässt, um seine Lehren/Liebesvorstellung/"Theologie"(Hallo Herr Paulus) deutlich zu machen. Jesus ist weit größer, berührender, göttlicher und herausfordernder, wenn man ihn bewahrt vor religiöser Instrumentalisierung wie etwa den christlichen Kerndogmen.
Ein weiterer Aspekt: in der 11. Klasse waren im evangelischen Religionsunterricht Sekten auf dem Lehrplan. wir diskutierten die 10 Kriterien der evangelischen Landeskirche zur Erkennung von Sekten (damit wir uns orientieren konnten, wenn Mitglieder z.B. der Kinder Gottes uns werben wollten). Als ich mit diesen Kriterien meine Erfahrungen mit der Liebenzeller Mission überprüfte, kam ich ganz klar zu dem verblüffenden wie mein Denken erhellenden Schluss, dass ich in einer stark sektenverdächtigen christlichen Gemeinschaft aufgewachsen bin.
Trotz aller Unterstützung: sich aus so etwas in sein eigenes Leben hinauszubewegen ist nicht leicht: als schwarzes Schaf, als Enttäuschung und zum Entsetzen für die Eltern, mit dem Bemühen noch an ein selbstbestimmtes Leben und lustvolle schuldgefühlfreie Sexualität anzuknüpfen. Und trotz aller Auseinandersetzung schwebt manchmal noch das Damoklesschwert über mir, dass nach dem Tod doch noch ein jüngstes Gericht nach den Kriterien einer fundamentalistschen Missiongesellschaft mich ereilen könnte.
In den 60er und 70er Jahren war die LM sektenartig und hat ungestraft emotionalen Missbrauch, religiösen Missbrauch und Seelenmissbrauch betrieben. Inwieweit sich das verändert hat, weiß ich nicht.
Ich kann nur jeder/m Raten, die oder der sich mit Religion und Spiritualiät beschäftigt, die Strukturen gründlich zu prüfen und mit bekannt gewordenen Fällen von religiösem Missbrauch zu vergleichen.
Ich halte mich tendenziell an die Mystiker aller Religionen. Die Öffnung für die direkte Erfahrung des Göttlichen, da wo das Göttliche und die Seelenebene eins sind. "Mein Reich ist nicht von dieser Welt". Mit den Ebenen des weltlichen ist aber nichts verkehrt; sie sind nur nicht die Ebene wo der Atem der Seele und die bedinungslose Liebe "wohnen" und erfahren werden können. Dieser Raum ist für jedes Wesen offen, ganz sicher völlig unabhängig von Religionszugehörigkeit. Insofern ist forcierte Missionaktivität für mich ein klares Ausschlusskriterium für ernstzunehmende Religiösität / Spiritualität.