Es gibt bei den Zeugen Jehovas konservativere und liberalere, genauso wie bei vermutlich allen anderen gesellschaftlichen Gruppierungen auch.

Gelehrt wird bei JZ tatsächlich, dass in Verbindung mit dem Martinstag auch Bräuche praktiziert werden, deren Ursprung den Stammesreligionen (Heiden) zugeordnet werden. Dazu gibt es auch einige Literaturbelege und das Ganze ist Teil des Wissenschaftsdiskurses. Selbstverständlich gibt es auch andere gesellschaftliche Strömungen die den wissenschaftlichen Diskurs dahingehend wiedergeben, es gäbe keine Bezüge zu Riten oder Gebräuchen von Stammesreligionen. Wenn man bedenkt, dass die größte der weltweiten Kirchen diese Bräuche in Zusammenhang mit dem Gedenken an Martin von Tours (u.a.) eingeführt haben und weiter pflegen, ist klar, dass sie nicht daran interessiert sein wird, diese Bräuche als unchristlich zu enttarnen.

Weiterhin wird bei JZ tatsächlich gelehrt, dass man keine Personen verehren sollte, außer den Sohn Jesus Christus und dessen himmlischen Vater Jehova (JHWH). In Zusammenhang mit Martin von Tours wird im öffentlichen Diskurs von der sog. Martinsverehrung oder dem Martinskult gesprochen, der bereits um das Jahr 400 begann (vgl. Wikipedia). 

Es wird also vermutlich so sein, dass ein aktiver Zeuge Jehovas nicht unbedingt aktiv an dem Kultritus rund um den Martinstag teilnehmen wollen wird. 

Das Narrativ der Geschichte von Martin von Tours, der mit dem armen Bettler geteilt hat, ist sicherlich grundsätzlich als moralisch richtig zu werten.

Die Bräuche und Riten, sowie der Personenkult rund um den Martinstag, haben jedoch kaum bis nichts mit diesem Narrativ zu tun.

Wenn also lediglich ein Stand auf einer Veranstaltung einer Schule aufgesucht wird der mit dem Martinstag in Verbindung steht, könnte das für deinen Freund weniger ein Problem gewesen sein. Wenn er allerdings beim Martinsumzug und Martinssingen mitmachen soll, würde er das vermutlich ablehnen.

Das ganze könnte man auch auf das Weihnachtsfest, das Osterfest oder das Geburtstagsfest ausweiten. Einen Weihnachtmarkt oder Ostermarkt würde er wahrscheinlich besuchen. Vielleicht wünscht er einem Kollegen der Geburtstag hat auch generell alles Gute, an seinem Geburtstag, aber unabhängig davon, aus Respekt vor der anderen Person. Er würde aber vermutlich nicht bei einem Weihnachtsritus, Osterritus oder bei einem Geburtstagsritus teilnehmen, wie Lieder singen, einen katholischen oder evangelischen Gottesdienst besuchen, ein Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk übergeben oder Ostereier verstecken. Obwohl das natürlich trotzdem unterschiedlich sein kann, je nachdem wie streng er seinen Glauben auslebt.

Ich denke, dass man deinem Freund, dem Zeugen Jehovas, durchaus zugestehen kann an entsprechenden Feiern und Bräuchen teilzunehmen oder auch nicht.

Gleiches Recht für alle. Er würde von dir ja auch nicht erwarten an der Abendmahlsfeier der Zeugen Jehovas teilzunehmen. Nur weil ein Brauch oder Ritus allgemein üblich oder Tradition ist, heißt das bekanntermaßen noch lange nicht, dass es das Beste sein wird daran teilzunehmen. Zu oft schon haben sich Riten und Bräuche entwickelt, die man aus verschiedenen Gründen ablehnen kann.

Beispiele für Kritik wären die kommerzielle Entwicklung von Festen und Bräuchen im Rahmen der Kapitalismuskritik. Aber auch die Frage nach Tierrechten und Tierwohl beim Gänseessen, Eier bemalen usw.. Oder auch die Frage nach der Überfrachtung des Alltages durch Fragmentierung. Wenn ich alle Feste und Feiern "optimal" begehen will und dazu noch an alle Geburtstage denken soll wird es vermutlich schwierig noch eine freien Tag zu haben an dem einfach mal gar nichts ansteht.

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