Bevor ich dir antworte, erlaube mir zuerst eine kleine Korrektur. Du hast geschrieben: "Die Evolution besagt...", aber das ist falsch formuliert. Die Evolution kann nichts besagen, weil sie einfach nur ein in der Natur ablaufender Prozess ist. Die wissenschaftliche Theorie zu ihr, die etwas besagen könnte, wird Evolutionstheorie genannt - aber auch die befasst sich nicht explizit nur mit der Evolution der Vögel. Das mag jetzt etwas klugscheißerisch klingen, ist aber sehr wichtig, wenn man die Zusammenhänge begreifen will.
Die Evolution der Vögel war tatsächlich viele Jahre lang ein Geheimnis. Zwar wurde der Archaeopteryx, der berühmte "Urvogel", bereits im Jahre 1861 entdeckt und beschrieben, und schon damals wurde vermutet, dass Dinosaurier die Vorfahren der Vögel waren. Doch außer ihm wurden nur sehr wenige Vogelfossilien aus dem Erdmittelalter gefunden, sodass die Entwicklungsgeschichte dieser Tiere sehr lange im Dunkeln lag.
Die Seltenheit der Fossilien lässt sich vor allem so erklären: Fossilisation ist ein nur sehr selten stattfindenden Prozess, der vorraussetzt, dass das zu fossilierende Objekt vor der Zersetzung geschützt wird. Der Körper eines Tieres muss dafür sehr rasch von Sedimenten bedeckt werden, damit er einerseits nicht von Aasfressern entdeckt und gefressen wird, und andererseits nicht verwest. Am besten kann dies in sehr wasserreichen Lebensräumen geschehen. Dort sinkt der Körper auf den Grund und wird von Schlick und Schlamm bedeckt. Auch durch Vulkanasche, Sandstürme oder Erdrutsche wird Fossilisation begünstigt.
Vögel jedoch waren im Erdmittelalter vor allem in dichten Wäldern zu finden. Auf ein Leben in Gewässernähe haben wohl nicht sehr viele Arten gelebt, und tatsächlich sind die in der frühen Geschichte der Paläontologie entdeckten mesozoischen Vögel fast allesamt Wasservögel aus der Kreidezeit, wie zum Beispiel Hesperornis und Ichthyornis; und auch Archaeopteryx lebte in einer tropischen Küstenlandschaft am südlichen Rande des Tethymeeres, das damals große Teile Deutschlands bedeckte und Bayern in einer Lebensraum mit vielen kleinen Inseln, Korallenriffen und Lagunen verwandelte.
Die "Zwischenstufen" können erst seit den letzten beiden Jahrzehnten systematisch erforscht werden. Erst seit kurzer Zeit findet man sie nämlich, vor allem im Südosten Chinas, auch bekannt als Mandschurei. Diese Gegend war während des späten Juras und der frühen Kreidezeit eine weitläufige Waldlandschaft mit gemäßigten Klima, die aber durch starken Vulkanismus und einer hohen Niederschlagsmenge gekennzeichnet war.
In den Ablagerungen aus Tonschiefer und vulkanischer Asche blieben die Fossilien der dort lebenden Tiere in mitunter hervorragendem Zustand erhalten, sogar einzelne Federstrukturen und sogar die Farbpigmente in den Federn blieben bei einigen Gattungen wie zum Beispiel Aurornis erkennbar. Andere prähistorische Vögel wie Jeholopteryx und Confuciusornis verdeutlichen nun immer mehr, wie die Evolution der Vögel im Detail ablief.
Heute wissen wir, dass die Dinosaurier das typischste Vogelmerkmal, die Feder, schon lange vor dem ersten Flügelschlag entwickelten. Es wird vermutet, dass ihre Vorfahren bereits während des Karniums, einer Stufe der Trias vor etwa 240 bis 235 Millionen Jahren einen primitiven Flaum als Schutz gegen Kälte und Nässe entwickelten.
In dieser Zeit kam es auf der Südhalbkugel durch Gebietsbildung zu einem extremen Monsun-Effekt, sodass es in dieser Gegend für mehrere Millionen Jahre nahezu unaufhörlich regnete. So ein mieses Wetter ist für Tiere mit einem gleichwarmen Stoffwechsel, den die Dinos damals wohl schon hatten, nicht gut zu überstehen. Die Federn hielten sie damals warm, und durch den Talg darauf konnte das kühle Wasser von ihrem Körper abperlen. Die primitiven Federn dürften auch beim bebrüten der Eier eine Rolle gespielt haben und wurden durch diesen verstärkenden Selektionsdruck immer länger.
Späte im Jura erfüllten die Federn auch noch weitere Zwecke: einerseits konnten die kleinen, im Wald lebenden Dinosaurier damit gut auf sich aufmerksam machen, ihre eigenen Artgenossen erkennen, Weibchen beeindrucken und Konkurrenten einschüchtern - sie waren also schon damals ein bewährtes Mittel zur Kommunikation. Tatsächlich sind mit Epidexipteryx (ebenfalls aus China) schon aus dem Oberjura prächtige Schmuckfedern auch bei Dinosauriern bekannt.
Die im Wald lebenden Vogelverwandten waren wahrscheinlich ausgesprochen gute Kletterer. Und für Kletterer zeichnet es sich aus, wenn sie einen Schutzmechanismus besitzen, der ihren Fall bremst, wenn ihnen Mal ein Missgeschick passiert und sie stürzen. Diese Funktion erfüllten die breiten Federn wohl ebenfalls.
Aus dieser "Bremswirkung" hat sich kurz darauf wahrscheinlich der Gleitflug entwickelt, und zwar bei mehreren Dinosaurierfamilien unabhängig und gleichzeitig: die Vorfahren der "echten" Vögel flogen mit nur zwei Flügeln an den Armen, kleine Dromaeosaurier (Raptoren) wie Microraptor besasen sogar noch zwei zusätzliche Tragflächen an den Beinen, und die Scansoripterygiden wie der geheimnisvolle Yi qi flog mithilfe von Flughäuten ganz ähnlich denen einer Fledermaus durch die Lüfte.
Während die "Dino-Fledermäuse" ausstarben und die Raptoren zu einer bodenbewohnenden Lebensweise zurückfanden, blieben die Vorfahren der Vögel jedoch Luftakrobaten und perfektionierten ihre Flugkünste. Zunächst verkürzte sich ihr Schwanz zu einem Bürzel, wie ihn alle heutigen Vögel besitzen. Die Fingerknochen verschmolzen und bildeten sich zurück, ganz zugunsten der Avionik, und auch die Flugmuskulatur und das Brust- und Armskelett bildete sich um, sodass die Vögel nun nicht mehr nur gleitflogen, sondern aktiv mit den Flügeln schlagen konnten.
Am Ende der Kreidezeit gab es schließlich schon eine enorme Vielfalt unter den Vögeln, und auch einige Familien, die sich systematisch schon als Vorläufer heutiger Piepmätze bestimmen lassen. So gab es damals bereits Eulen, Kraniche, Reiher, Regenpfeiffer, Möwen, Enten- und auch Hühnervogel.
Der früheste bekannte Hühnervogel, überliefert durch einen linken Tarsometatarsus (Fußknochen), stammt von einem Tier namens Austinornis, das in 85 Millionen Jahre alten Gesteinsschichten in Texas entdeckt wurde. Die Entdeckung aus dem Jahre 2004 deckt sich auch mit der Altersbestimmung der Genetiker, die anhand der mitochondrialen Uhr ermittelten, dass sich die Linien von Hühnern und Entenvögeln in der Zeit zwischen 90 und 85 Millionen Jahren getrennt haben müssen.
Hühner - aber natürlich nicht unser Haushuhn, wohl aber seine Vorfahren - gab es also schon zur Zeit der Dinosaurier - sie sind damit eine der ältesten Vogelgruppen der Erdgeschichte. Trotzdem wird der Stammbaum der Vögel sich natürlich nie lückenlos rekonstruieren lassen - dazu sind die Zeitspannen einfach zu groß und die Fossilüberlieferung zu dürftig.