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Hallo lieber Pad,
Dein Problem kenne ich zu gut. Und es tut mir sehr leid, dass du da durch musst, denn ich erinnere, wie schlimm ich es empfand.
Ich bekam es plötzlich im Englisch LK. Ich hatte Vorlesen immer geliebt, hatte mich auch diesbezüglich immer gemeldet.
Es muss ebenfalls in der 10. Klasse gewesen sein; Ich wollte einen Text vorlesen und plötzlich fing meine Stimme an zu zittern und mein Kinn. Ich musste nach wenigen Minuten aufhören. Ich konnte der Lehrerin noch nicht mal sagen, warum, sondern hörte einfach auf. Das war der Anfang zu allem. Dann fing auch bei mir die Panik an, jedes mal, wenn Zettel ausgeteilt wurden, Hausaufgaben vorgelesen werden sollten etc. Egal, in welchem Fach. Also hatte ich Hausaufgaben entweder vergessen oder so knapp wie möglich gehalten, dass ich im Notfall die paar Sätze hinbekommen würde.
Jedenfalls ging es soweit, dass ich schon beim besteigen der Stufen in die Klassenräume Angst bekam. Es war schlimm! Ich fühlte mich so anders und wusste nicht, an wen ich mich wenden konnte, weil ich dieses "Problem" nicht als wirkliches Problem ernst nehmen konnte/wollte. Ich konnte MICH nicht ernst nehmen. Ich erzählte es irgendwann meinem Vater und der sagte dann:" Lies doch mal diesen Abschnitt vor in der Zeitung." Tat ich und merkte, dass ich es konnte, weil ich ihm davor davon erzählt hatte. Aber die Frage stellte sich für mich nicht, mich vor meiner ganzen Klasse zu "outen"! Das war ja genau die Angst! Ich wollte nicht, dass es die anderen mitkriegen!
Naja, jedenfalls bin ich nun 36. Und meine Phobie behielt ich bis nach dem Abitur. Ich hatte auch eine lange Zeit unter der Phobie gelitten, rot zu werden. Das war auch sehr schlimm. Gepaart mit der Angst vorzulesen natürlich die absolute Krönung!
Soviel erstmal zu meiner Geschichte, damit du merkst, dass du nicht allein bist, sondern ich ganz exakt einfühlen kann, wie es Dir gerade geht.
Das einzige, was hilft, ist dich Deiner Angst zu stellen. Auch, wenn es so banal klingt. Ich hatte es damals nicht gemacht, aber ich weiß, dass hätte alles von einen Tag auf den nächsten verändert. So habe ich meinen Kampf alleine geführt und das war grausam.
Stell dich einmal vor die Klasse und sag es: "Ich hab eine Angst entwickelt und kann nicht vorlesen. Mir versagt die Stimme." Die Leute, die dir deswegen dumm kommen sollten, kannst du eh knicken. Warum solltest du denen imponieren wollen? Aber weißt du, was passieren wird? Und das ist das Wichtigste, denn es geht schließlich um dich und niemand anders! Solltest du dann was vorlesen, klappt es auf einmal. Warum? Du hast angefangen, zu Dir selber zu stehen. Sobald man nicht mehr versucht, etwas zu verdrängen oder zu verheimlichen, beginnt man, natürlich zu sein und diese Angst, aufzufliegen, ist auf einmal weg.
Sobald du anfängst, Dich selber unter Druck zu setzen:" Ich darf keine Angst haben! Ich darf keine zittrige Stimme bekommen", genau dann wird das eintreten. Unsere Psyche ist unglaublich komplex und wir lassen uns sehr von unserem Unterbewusstsein leiten, anstatt zu lernen, uns mehr mit uns selbst auseinander zu setzen, uns zu verstehen, warum was passiert. Wir haben so viel Einfluß auf uns und unsere Umwelt, sobald wir uns selbst besser kennen und wirklich der oder die sind, die wir sind. Sobald wir anfangen, "echt" zu sein.
Warum sich bei mir diese Vorlesepanik entwickelt hat, erkläre ich damit, weil auf einmal das Leistungsniveau ein ganz anderes war im Englisch LK, als was ich im Grundkurs gewohnt war. Von einer Einser-schülerin wurde ich zu einer Vierer-Schülerin. Ich scheiterte an meinen eigenen Erwartungen. Und das kam dann schockartig so zum Vorschein, als ich vorlesen wollte..
Man muss lernen, seine "Schwächen" zu akzeptieren. Wenn ich z.B. mittlerweile rot werde, dann ist es halt so. Meine Mitmenschen finden es süß. Es zeigt sehr viel Herzlichkeit und Natürlichkeit. Wenn ich merke, dass meine Stimme etwas zittrig wird beim Vorlesen (passiert immer noch dann und wann, nur nicht so extrem), dann sage ich:"Ups, jetzt werde ich gerade etwas nervös." Und lächle charmant ;) Was ist entwaffnender als ein ehrliches Lächeln?
Ich bewundere Menschen am meisten, wenn sie zu ihrer Schwäche ganz offen stehen, weil das verdammt viel Mut beweist. Und glaub mir, du wirst nach dieser schwierigen Zeit für dich, ein ganz anderes Bewusstsein für Dich und andere entwickelt haben, was dich stärker macht. Jede Krise steht für ein Ende und für einen Neuanfang..
Akzeptiere, dass sich Dein "Problem" nicht von heute auf morgen lösen lässt, aber dass es morgen schon besser sein kann als heute, sobald du anfängst, zu Deiner Angst zu stehen.
Ich hoffe, dass ich Dir etwas Erleichterung verschaffen konnte? Bitte geh weiterhin zur Schule und verbau Dir nicht Deinen Weg. Alles wird irgendwann gut: "Everything is going to be ok in the end. If it's not ok, it's not the end."
Alles Gute Dir,
Marie
PS: Ich sehe gerade, dass Dein Eintrag bereits 2014 war. Mich würde interessieren, wie es Dir mittlerweile geht...?