Der Nahostkonflikt hat eine mehr als hundertjährige Geschichte, die eng mit dem europäischen Kolonialismus und beiden Weltkriegen verbunden ist, auch wenn im deutschen Diskurs gerne so getan wird, als hätte alles mit den Anschlägen des 7. Oktober angefangen.
Die Region Palästina liegt an der Grenze von drei Kontinenten und hat in Antike und Mittelalter ein paar Dutzend mal die Besitzer gewechselt, vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert war sie Teil des Osmanischen Reichs und mehrheitlich von muslimischen Arabern besiedelt, auch wenn es bedeutende christliche und jüdische Minderheiten gab.
Das 19. Jahrhundert war in Europa eine Hochzeit des Antisemitismus und zahlreiche Juden flohen vor den Pogromen und Verfolgung nach Palästina. In den 1880er und 1890er Jahren kam dann die politische Ideologie des Zionismus auf, der einen jüdischen Nationalstaat in Palästina nach Vorbild der europäischen Nationalstaaten schaffen wollte.
Der Zionismus blieb Jahrzehnte lang eine Minderheitenposition unter den Juden und hatte mit grundsätzlichen Problemen zu kämpfen. Eine einheitliche jüdische Nation gab es nicht, und die Hauptgruppen der Juden (Aschkenasim, Sephardim und Orientalische Juden) unterschieden sich in ihren kulturellen und religiösen Traditionen und ihrer Sprache. Orthodoxe Juden lehnten den Zionismus aus religiösen Gründen ab, liberale Juden in Westeuropa sahen sich selbst vor allem als Deutsche, Franzosen usw. an und glaubten, den Antisemitismus durch ihre Integration überwinden zu können. Die osteuropäischen Juden waren extremer Armut und Gewalt vonseiten des Zarenreichs ausgesetzt und liefen sozialistischen Parteien zu, die den Zionismus verwarfen und den Antisemitismus durch eine sozialistische Revolution die Grundlage entziehen wollten.
Trotzdem fand der Zionismus auch Anhänger und zionistische Verbände organisierten die Migration von Juden nach Palästina, gründeten Plansiedlungen und kauften Ackerland auf, was zunächst ohne größere Reibereien mit der einheimischen Bevölkerung führte. Dabei waren die Zionisten untereinander zerstritten und uneinig, wie ein jüdischer Staat aussehen sollte und welchen Platz die Araber darin haben sollten. Die Ideen reichten von Koexistenz in einer sozialistischen klassenlosen Gesellschaft bis hin zur jüdischen Dominanz und Vertreibung der Araber.
Im ersten Weltkrieg standen Großbritannien und das Osmanische Reich auf verfeindeten Seiten. Die Briten sicherten aus eigennützigen, strategischen Gründen sowohl den Arabern als auch den Zionisten jeweils einen eigenen Staat zu. Nach dem Sieg über die Osmanen wurden alle diese Versprechungen gebrochen und Großbritannien und Frankreich teilten den Nahen Osten unter sich auf, auch Palästina kam als Mandatsgebiet unter britische Herrschaft.
Hier kann man erstmals von einem Nahostkonflikt sprechen. Das Verhalten der Briten führte zur Radikalisierung sowohl bei arabischen Palästinensern als auch bei jüdischen Zionisten. Es gab in den 20er und 30er Jahren zahlreiche Proteste, Streiks, Lynchmorde und bewaffnete Paramilitärs verübten Anschläge gegen die jeweils andere Seite und die britische Verwaltung, die mit Einreisebeschränkungen für Juden und Entwaffnung der Araber reagierte.
Im Zweiten Weltkrieg entwurzelte der Holocaust hunderttausende europäische Juden, von denen sich viele nun dem Zionismus zuwandten. Die Briten waren vom Krieg so geschwächt, dass sie die Konflikte in Palästina nicht mehr einhegen konnten und sich zurückzogen. Die UN legte 1947 einen Teilungsplan in einen jüdischen und einen arabischen Staat vor, konnte aber keine Einigung erzielen und es kam zum Bürgerkrieg zwischen arabischen und jüdischen Milizen, wobei sich letztere durchsetzten.
Die Zionisten vergrößerten ihr Territorium gegenüber dem Teilungsplan, vertrieben von dort hunderttausende Palästinenser und riefen 1948 Israel als jüdischen Staat aus. Das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge und ihrer Nachkommen ist bis heute ein Streitpunkt. Eine unkoordinierte Intervention von sechs arabischen Nachbarstaaten, die größtenteils selbst erst wenige Jahre alt waren, wurde zurückgeschlagen und führte zu Spannungen zwischen diesen Staaten und ihrer jüdischen Bevölkerung, die in massenhafter Auswanderung nach Israel endeten.
Die USA und die NATO wurden zu Israels engstem Verbündeten, weil es als Bollwerk gegen die benachbarten, meist an der Sowjetunion orientierten Staaten gesehen wurde. Zwischen Israel und den Nachbarstaaten gab es seitdem mehrere Kriege, von denen der Sechstagekrieg 1967 für die heutige Situation am relevantesten ist. Da startete Israel nämlich einen Überraschungsangriff und besetzte die syrischen Golanhöhen, das Westjordanland und den Gazastreifen (und bis 1979 auch den ägyptischen Sinai). In den besetzten Gebieten wurden israelische Siedlungen etabliert, was nach internationalen Recht illegal ist.
In den 60er und 70er Jahren etablierte sich die Palästinensische Unabhängigkeitsorganisation (PLO) dann als politische Kraft, die einen Guerillakrieg mit Anschlägen und Entführungen gegen Israel führte, mit dem Ziel, einen palästinensischen Nationalstaat zu errichten. Die PLO ist säkulär und ihre Teilorganisationen sind sozialdemokratisch bis kommunistisch geprägt, während die Hamas als islamistische Kraft außerhalb der PLO steht und erst in den 90er Jahren relevant wurde.
Die israelische Besatzung mit ihrem Kriegsrecht, Hauszerstörungen, willkürlichen Verhaftungen, Ausgangssperren und Kollektivstrafen trieb zahlreiche Palästinenser in den Widerstand. 1987-1993 gab es dann mit der Ersten Intifada einen großen Aufstand, der von der PLO genutzt wurde, den Staat Palästina auszurufen. Dieser Schritt war erstmal symbolisch, weil die PLO-Führung aus dem Ausland agierte und es kein Palästina gab, dass nicht unter israelischer Besatzung gestanden hätte. Nichtsdestotrotz wurde Palästina von 135 Ländern anerkannt, wohlgemerkt nicht von ehemaligen Kolonialmächten und NATO-Verbündeten.
In den 90er Jahren gab es erstmals Friedensverhandlungen, die zur Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde als quasi-staatlicher Institution führten, die den größeren Teil des Gazastreifens und kleine Teile des Westjordanlands verwalten konnte. 1994 wurden die Verhandlungsführer beider Seiten mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, aber 1995 wurde der israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin von einem israelischen Rechtsextremen ermordet. Die neue rechte Regierung unter Benjamin Netanjahu verschleppte weitere Abkommen, und der Friedensprozess war damit gescheitert.
2000-2005 kam es zur Zweiten Intifada, die diesmal vor allem als militärischer Konflikt und mit brutaleren Methoden ausgetragen wurde und in dem erstmals die Hamas führend auftrat. In Reaktion räumte Israel seine Siedlungen im Gazastreifen.
2006 gab es das letzte Mal Wahlen für die Autonomiebehörde. Die Hamas trat dabei nicht als islamistische Kraft, sondern vor allem als Antikorruptionspartei auf, die die Kooperation der PLO mit dem Besatzer Israel anprangerte, und errang damit 44% der Stimmen und die Mehrheit der Sitze. Das führte zur Spaltung der Palästinergebiete; im Gazastreifen übernahm die Hamas die Macht, im Westjordanland die Fatah, die größte Fraktion der PLO.
Israel verfährt seitdem mit beiden Gebieten unterschiedlich. Das Westjordanland ist weiterhin direkt von Israel besetzt, die Autonomiebehörde ist weitgehend machtlos. Israelische Siedler vertreiben regelmäßig Palästinenser von ihrem Land und errichten eigene Siedlungen, wobei sie vom israelischen Militär geschützt werden, obwohl all dies illegal ist.
Der Gazastreifen unterliegt hingegen seit 2007 einer vollständigen Blockade zu Land, zum Wasser und zur Luft, die auch von Ägypten gestützt wird, das inzwischen der engste Verbündete Israels in der Region ist. Die Hamas unternahm gelegentlich Anschläge oder Raketenangriffe aus Israel, die jedes mal mit israelischen Vergeltungsschlägen mit vielen zivilen Opfern beantwortet wurden. 2018 wurden auch größtenteils friedliche Demonstrationen am Grenzzaun mit scharfer Munition beschossen, wobei über 200 Palästinenser starben.
Am 7. Oktober 2023 gelang der Hamas dann erstmalig die Überwindung der Grenzanlagen und der Vorstoß in israelisches Territorium, wo sie Massaker mit hunderten Opfern anrichteten und über 200 Geiseln nahmen, die sie gegen palästinensische Gefangene austauschen wollte. Seitdem führt Israel eine Rachekampagne von ungeahntem Ausmaß, die bereits nahezu die gesamte Infrastruktur des Gazastreifens zerstört hat, über 40.000 Todesopfer gefordert hat und fast die gesamte Bevölkerung zu Binnenflüchtlingen gemacht hat. Auf die israelischen Geiseln, die sich noch im Gazastreifen befinden, wird dabei ebenfalls keine Rücksicht genommen.
Und was ist eure Meinung zu dem Krieg und seid ihr für Israel oder Palästina?
Ein Verbrechen der Hamas rechtfertigt keine Verbrechen Israels, genauso wenig wie vorherige Verbrechen Israels die Massaker der Hamas rechtfertigen. Im Gazastreifen findet derzeit ein Massenmord und eine ethnische Vertreibung statt, die wie keine zweite live auf den sozialen Medien übertragen wird. Vor dem Internationalen Gerichtshof steht sogar der Vorwurf des Genozids im Raum, wobei sich Deutschland als Waffenlieferant mitschuldig macht.
Der Repressionshammer, der in Deutschland und anderswo gegen palästinasolidarische Stimmen geschwungen wird, zeigt, dass es mit dem ganzen liberalen Gerede von Menschenrechten nicht weit her ist, wenn es um die Interessen der imperialistischen Großmächte geht.
Netanjahu hat gezeigt, dass er weder Interesse an der Rettung von Geiseln noch an einem Ende des Krieges hat. Für ihn geht es auch darum, innerisraelische Konflikte durch ein äußeres Feindbild zu kitten. Das Korruptionsverfahren, das gegen ihn läuft, wird beispielsweise für die Dauer des Krieges pausiert und viele Israelis lassen sich durch nationalistische und militärische Propaganda von der sozialen Ungerechtigkeit im eigenen Land ablenken. Mit Netanjahu, Ben-Gvir, Galant und Konsorten wird es keinen Frieden geben.
Die einzige Perspektive, die für die Region in Frage kommt, ist Gleichberechtigung und Bewegungsfreiheit für *alle* Menschen zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan, egal ob jüdisch oder muslimisch, ob hebräisch, arabisch oder aramäisch. Dafür ist nicht nur ein sofortiger Waffenstillstand, humanitäre Hilfe für den Gazastreifen und die Rückkehr der Geiseln notwendig, sondern auch ein Ende der israelischen Besatzung, die Freilassung der palästinensischen politischen Gefangenen, die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge, ein Ende der Diskriminierung der arabischen Israelis und die Anerkennung der Palästinenser als Verhandlungspartner.
Die rein militärische Strategie der Hamas bringt uns ebenso wie ihr reaktionäres Gesellschaftsbild diesem Ziel nicht näher, sondern provoziert Gegengewalt und verleitet die Israelis zu blinder Rache. Und selbst wenn die Hamas militärischen Erfolg hätte, würde das nur das Vorzeichen der Unterdrückung umkehren.
Sowohl in Israel als auch in Palästina gibt es kleine linke Gruppen und Friedensaktivisten, die eine grenzübergreifende Zusammenarbeit und Basisarbeit verfolgen, um die verhärteten Fronten aufzubrechen. Das ist der einzige Weg zu echtem Frieden, aber er wird lang und kompliziert sein und die Anerkennung, Aufarbeitung und Vergebung von Leid auf allen Seiten erfordern.
Die israelischen Bomben schaffen keinen Frieden, sondern bereiten den Boden, auf dem die nächste Generation von Hamas-Kämpfern heranwächst.