Tatsächlich geht die oft genannte Zahl von angeblichen 100 Millionen Opfern des Kommunismus auf genau eine Quelle zurück - den Sammelband Das Schwarzbuch des Kommunismus, herausgegeben 1997 von Stéphane Courtois.
Das Schwarzbuch hat sich als nützlich für all diejenigen bewiesen, die bemüht sind, die herrschende Ordnung zu verteidigen und jeden Gedanken daran, ob eine bessere Welt möglich wäre, im Keim zu ersticken. Entsprechend wurde seine Verbreitung massiv von rechtsextremen Organisationen und bürgerlichen Regierungen gefördert. Wissenschaftlicher Gehalt steht dabei kaum dahinter, und die zentralen Aussagen des Buches werden nicht nur von drei (!) der Koautoren abgelehnt, sondern auch von der überwältigen Mehrheit der wissenschaftlichen Gemeinde.
Das Schwarzbuch basiert auf der falschen Prämisse, Todesfälle einfach aufrechnen zu können, egal welche Ursache sie hatten, und sie den Opferzahlen des Faschismus gegenüberstellen zu können, und daneben ist es voll von faktischen Fehlern, Ungenauigkeiten, bequemen Auslassungen, aufgeblähten Schätzungen und unbelegten Behauptungen.
Mehr als die Hälfte der angeblichen 100 Millionen Toten kommt allein durch die Hungersnot in der Sowjetunion 1930-33 und in China 1958-61 zustande. Der Hintergrund dieser Hungersnöte wird ausgeblendet. Sowohl in Russland als auch in China stand die Regierung vor der Herausforderung, den Sozialismus in einem unterentwickelten Agrarstaat aufzubauen.
Beide Hungersnöte fanden in Folge von Modernisierungs- und Kollektivierungskampagnen statt, die gerade die Produktivität der Landwirtschaft erhöhen, ländliche Arbeitskräfte für die städtische Industrie freimachen und die Ernährungsunsicherheit beseitigen sollten, die jede vorindustrielle Gesellschaft plagt. Offensichtlich kam es dabei zu Fehleinschätzungen und kurzzeitigen Produktivitätseinbrüchen, aber das ist etwas völlig anderes als die beabsichtigte Ermordung von Menschen. Das langfristige Ziel der Kampagnen wurde übrigens erreicht, und seitdem gab es weder in China noch in der Sowjetunion größere Hungersnöte (mit Ausnahme in den 40er Jahren in der Sowjetunion, die aber direkt durch den Zweiten Weltkrieg verursacht wurde).
Die tatsächlichen Opferzahlen sind tatsächlich völlig unklar und die Schätzungen gehen um mehrere Größenordnungen auseinander - das Schwarzbuch pickt natürlich die höchsten Schätzungen heraus, und auch diese basieren lediglich auf Schätzungen der Übersterblichkeit und sind deshalb irreführend. Mit der gleichen Methode lässt sich auch argumentieren, dass die Privatisierung der Wirtschaft in Russland in den 90er Jahren 3 Millionen Tote bewirkt hat:
Russian mortality trends for 1991-2001: analysis by cause and region - PMC
Auch Tote in Folge eines Bürgerkriegs, einer inneren Konterrevolution oder einer äußeren Intervention können nicht dem Kommunismus an sich angelastet werden. Kommunisten wären die letzten, die sich beschweren würden, wenn die bürgerliche Klasse sich ihrem Schicksal fügt und ihre Macht gewaltlos abtritt, nur war das nie der Fall.
Wo auch immer die arbeitende Bevölkerung in unblutigen oder eben auch blutigen Revolutionen ihre Unterdrücker gestürzt hat, waren konterrevolutionäre Kräfte oder ausländische Mächte zur Stelle, um die Revolution in Blut zu ertränken. Diese äußeren Faktoren beachtet das Schwarzbuch nicht. Zwei Beispiele dafür sind die Kapitel für Vietnam und Nicaragua: Für Vietnam werden Opfer der Kommunisten genannt, die in Curtois' Einleitung dann ohne Quellengabe mit einer Million beziffert werden - weder in der Einleitung noch im Kapitel werden erwähnt, dass die US-Invasion bis zu drei Millionen Opfer forderte. Für Nicaragua wird eine Opferzahl der sandinistischen Revolution genannt, aber verschwiegen, dass die allermeisten dieser Opfer von den rechten Contra-Rebellen getötet wurde, die von den USA finanziert wurden, und nicht von den Sandinistas.
Was bleibt, sind Opfer tatsächlicher staatlicher Repressionen. Der Umfang, die Rechtfertigung und die Ursachen dieser Repressionen bedürfen einer kritischer Aufarbeitung auch aus kommunistischer Sicht. Das Schwarzbuch leistet dazu jedoch keinen objektiven Beitrag, sondern nur Desinformation und Hetze.
Erst einmal muss getrennt werden zwischen unbeabsichtigten Opfern von Misswirtschaft und Opfern gezielter Gewalt. Und dann muss man auch die schwache Ausgangssituation der sozialistischen Staaten beachten und die Bedeutung äußerer Bedrohung, und dann wird klar, dass die Fehler und Repressionen, die zweifellos statt gefunden haben, keine direkte Folge des kommunistischen Programms sind, sondern der spezifischen historischen Bedingungen. Eine sozialistische Revolution in der heutigen hochindustriellen Welt würde unter ganz anderen Bedingungen ablaufen.
Noch Jahrzehnte nach der großen französischen Revolution ab 1789 haben die adeligen und bürgerlichen Eliten lauthals den Terror der Jakobiner angeklagt und verurteilt und vor seiner Wiederholung gewarnt. Das politische Programm der Jakobiner, nämlich das allgemeine und gleiche Wahlrecht, ist nun seit rund hundert Jahren in den meisten Ländern der Welt verwirklicht, und sind wir nun einem ständigen jakobinischen Terror ausgeliefert?
Systemimmanent ist die Gewalt hingegen im Kapitalismus, denn er beruht auf Ausbeutung und Unterdrückung. Auflisten könnte man hier die Massenverarmung und ungleiche Versorgung, Repressionen des bürgerlichen Staates, den Kolonialismus mit seinen Massenmorden und menschengemachten Hungersnöten, zwei Weltkriege, antikommunistische Interventionen und Massenmorde in dutzenden Ländern in Afrika, Asien und Südamerika, und den Faschismus, der die Widersprüche des Kapitalismus auf Minderheiten externalisiert und damit ihre Auslöschung anstrebt.