Welche Unterschiede gibt es zwischen den Sekten und den beiden Kirchen?


Wenn man sich um Aufklärung und Information über die verschiedenen Sekten bemüht, dann kommt man u.a. zu dem Punkt, wo nach den Unterschieden zwischen den beiden Kirchen und den verschiedenen Sekten gefragt wird.

Der AVAS (Arbeitskreis von Angehörigen Sektengeschädigter) hat sich anhand eines Faltblattes des Berufsverbands deutscher Psychologen mit dieser Frage einer Diskussion gestellt. Beim Lesen des folgenden Berichts sollte jedoch beachtet werden, daß eine Sekte heute nicht mehr als Sekte bezeichnet wird, nur weil die Gruppe ein „Segment", d.h. einen Teil aus der Bibel betont oder weil sie sich von einer der beiden großen Kirchen getrennt hat. Der heutige Begriff „Sekte" bezieht sich auf „Kulte" und „Praktiken" innerhalb einer solchen Gruppe, die die Mitglieder seelisch, körperlich, finanziell, etc. abhängig macht, d.h. sich „destruktiv" auf die Mitglieder auswirkt.

Das Gespräch konzentrierte sich auf die Bereiche

"Die zentrale Figur" und "Gruppenstruktur".

  1. Die zentrale Figur

Der Sektenführer bzw. die Sektenführerin setzt sich selber ein. Sektenführer erfinden ihre Lehre selbst. Sie beanspruchen unanfechtbare Autorität und lassen Kritik nicht zu. Die betonte Hierarchie dient vor allem der strikten Durchsetzung der reinen Lehre sowie von Regeln, Ordnungen und Gewohnheiten. Methode der Sektenführer ist das Abhängigmachen der Mitglieder in geistiger, seelischer und materieller Hinsicht. Das Ziel der eindeutigen Machtausübung bleibt unklar, ebenso Umfang und Verwendung der Mittel der Sekte.

"Die Gurus sind die Hirten, die sich selber weiden ' " (Haack)

Die Hierarchie in den Kirchen, auch der katholischen, ist offener. Das hierarchische Prinzip wird gegenüber den Gemeindemitgliedern weniger streng angewandt als innerhalb des Klerus. Im Gespräch wurden Beispiele dafür gebracht, daß katholische Pfarrer in persönlichen Notlagen von Gemeindemitgliedefn (z.B. Eheschließung mit geschiedenem Ehepartner, Beerdigungen) - nach eigenem Ermessen vor Ort seelsorgerlich gehandelt haben.

Das Druckmittel ewiger Verdammnis, das zum Repertoire der Sektenführer gehört, ist nicht mehr charakteristisch für die Praxis der katholischen Kirche.

Im Gegensatz zu den z.T. unmenschlichen Regeln und Vorschriften der Sekten haben die zentralen "Zehn Gebote" der Bibel auch den menschlichen Charakter einer "Lebenshilfe", die ihre Wirkung nicht verfehlen, wenn sie beachtet werden.

Die Sekten dienen in Wahrheit nicht den Menschen, sondern den selbstgemachten Zielen ihrer Führer.

Es wurde der Gedanke geäußert, daß eigentlich kein Mensch den Anspruch auf den Besitz der absoluten Wahrheit geltend machen kann. Für Sekten entlarvend ist es aber, daß sie sich im Besitz der Wahrheit glauben oder so tun, als seien sie es.

Es konnte im Gesprächsverlauf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, daß die katholische Kirche ihren alleinigen Heilsanspruch nach wie vor dogmatisch vertritt.

  1. Gruppenstruktur

Der Vergleich von Sekten mit dem Leben in der klösterlichen Gemeinschaft eines christlichen Ordens zeigt wesentliche Unterschiede.

Wer in eine Sekte hineingerät, tut dies nicht infolge einer unabhängigen Entscheidung und langer reiflicher Überlegung, sondern als Opfer einer subtilen Täuschung über das wahre und totale Abhängigkeitsverhältnis, das ihm bevorsteht. Er verzichtet auf eine materielle Sicherung und Versicherung seines Lebens, auf berufliche Ausbildung, auf die Erhaltung menschlicher Verbindungen außerhalb der Sekte, auf freien Informationszugang und ein eigenes unabhängiges Urteil.

Dies gilt jedoch nicht für den freien Lebensentwurf eines Ordensmitgliedes. Er wird nicht zum Opfer bewußter Lügen und für ihn undurchschaubarer Manipulation.

Im Gegensatz zu Sekten dienen Orden in der Regel auch im weitesten Sinne diakonischen Zwecken und damit den Menschen auch außerhalb der eigenen Organisation.

Das zerstörerische Element der ständigen gegenseitigem Kontrolle, Meldung von Fehlern nach oben und unwürdigste Strafen - in unterschiedlicher Ausprägung Merkmale von Sekten - entfallen.

Dennoch darf nicht übersehen werden, daß manche Motive, für den Eintritt in eine christliche Ordensgemeinschaft ebenso gelten wie für den in eine Sekte: die Suche nach enger tragender Gemeinschaft, nach Geborgenheit. Der Wille zur Hingabe an eine große Aufgabe; wohl auch der Wunsch, einer Lebenskrise zu entkommen. Was aber hier freier Wille und bleibende freie Entscheidung ist, bedeutet dort das unkontrollierbare Hineingeraten in eine ohne seelischen Zusammenbruch nicht lösbare bedingungslose Abhängigkeit.

Das Erkennen dieser Unterschiede kann auch dazu dienen, Mißbräuche und Unarten zu identifizieren, die selbst in Kirchengemeinden vorkommen können. Auch dadurch können Druck und Zwänge entstehen, sich möglichst unauffällig zu verhalten, um Sanktionen, weicher Art auch immer, zu entgehen.

Als wesentlich wurde die Feststellung gesehen, daß die Kirche seit dem Mittelalter in Form und Leben gewaltige Veränderungen durchlaufen hat, so daß es als unfair bezeichnet werden muß (so Pfr. Nauhauser), wenn man die Sekten von heute mit der Kirche des Mittelalters vergleicht. Ein Vergleich muß die Kirchen von heute ins Auge fassen.

Hans-Jürgen Wilhelmi

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