Hallo!

Da das Drama und besonders die Schlussszene aus feministischer Sicht kritisch zu betrachten sind, ist hier eine Erläuterung und Kontextualisierung der sexistischen Elemente dieser Abitur-Pflichtlektüre!

Die Rose gebrochen:

Mit der Rose ist Emilia gemeint. Der Vergleich von Frauen mit Blumen ist eine gängige Praxis in der deutschen (und englischen) Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. In der Literatur dieser Zeit werden Frauen prinzipiell in zwei Gruppen unterteilt. Die unschuldigen und vollkommenen, zurückhaltenden stillen Wesen, die mit der Farbe weiß assoziiert sind. Diese Farbe findet sich in ihrer Kleidung wieder, bezieht sich aber auch direkt auf die Hautfarbe. Die andere Gruppe ist die der Verführerinnen, die von dunklerem Typ und aufbrausend sind, etwas diabolisches an sich haben und mit der Farbe rot assoziiert werden, welche für Erotik und Lust steht. Diese Unterteilung verbindet ein rassistisches Narrativ und eine Weltsicht, in der das europäische Christentum Zentrum und Norm ist mit sexistischen Charakteridealen: Die perfekte Frau hat sanft, keusch und WEISS zu sein. Da die Rose besonders mit der Farbe rot in Verbindung gebracht wird, ist sie ein wiederkehrendes Motiv für Sexualität. Überall wo sie auftaucht, wird sie schlussendlich auch gebrochen, zum Beispiel in Goethes Heidenröslein und Richardson’s Clarissa Harlowe. In diesen Texten wird das Rosen brechen als Metapher für Vergewaltigungen verwendet, während es bei Lessing den Tod, bzw. die Tötung verkörpert. Die Frauen in diesen Texten fallen ihren Vergewaltigern oder Mördern zu Opfer, eigentlich aber sich selbst, bzw. ihrem eigenen Verlangen. Denn nach damaliger Auffassung existiert der Tatbestand der Vergewaltigung nicht und jede Frau empfindet auch bei erzwungenem Geschlechtsverkehr Lust. Die Rosen haben es also verdient gebrochen zu werden. Emilia Galotti bewegt sich zwischen den beiden Rollenstereotypen, da sie eigentlich alles daran setzt, unschuldig, keusch, zurückhaltend und kompromissbereit zu sein. Am Ende sieht sie sich aber doch in Gefahr, der Verführung des Prinzen nachzugeben und wird im letzten Aufzug ihrem Vater gegenüber aufbrausend. Sie schafft es dennoch, ihre Unschuld als “gefährdet” zu erkennen und ihrem Leben vor deren Verlust ein Ende zu setzen.

Blumen und Wiesen:

Ob rote Rosen oder weiße Lilien, dass die Blume als Metapher für “Frau” verwendet wird, ist Ausdruck einer gesellschaftlich tief verankerten Dichotomie von Natur und Kultur. Darin ist die Kultur mit Fortschrittlichkeit, Rationalität, dem Geist, Genialität und dem MANN konnotiert und die Natur mit Ursprünglichkeit, Sinnlichkeit, Emotionalität, Bodenständigkeit und der FRAU. Als besondere Bestätigung dafür wird immer wieder die Reproduktion gesehen – Ein exklusiver und naturnaher Vorgang im Körper der Frau, der sich in tabuisierten und mystifizierten Phänomenen wie Menstruation, Schwangerschaft und Geburt äußert. Diese Vorgänge werden dabei als etwas gesehen, das im privaten Leben der Frau passiert und genau wie sie selbst nicht verstanden werden kann, also auch nicht weiter besprochen werden muss. Weiblicher Kraftaufwand aber auch weibliches Leid werden dabei komplett naturalisiert – Genau wie es eben dazugehört, neben den jeweils “normalen” Anstrengungen des Lebens auch noch Kraft für das Kinder austragen aufzubringen, gehört auch das körperliche Leid zum Frau sein einfach dazu. Ein Standardsatz zum Eintreten der ersten Periode ist “jetzt bist du eine richtige Frau” während der Beginn des Stimmbruchs oder ein Flaum auf der Oberlippe wohl kaum mit “jetzt bist du ein richtiger Mann” kommentiert werden. Bei Männern ist es eher der erste Sex der das Eintritt in’s Erwachsenenalter markiert, bei Frauen der erste Unterleibsschmerz. Die Naturalisierung Dieses Schmerzes geht dabei so weit, dass z.B. 40 Prozent von 2500 befragten Endometriose-Patientinnen in UK (Endometriose ist eine Krankheit, bei der die Gebärmutterschleimhaut außerhalb der Gebärmutter wächst) berichteten, öfter als 10 Mal zum Arzt gegangen zu sein, bevor sie aufgrund des Symptoms “extrem starke Unterleibsschmerzen” nicht wieder nach Hause geschickt, sondern ernsthaft untersucht wurden und eine Diagnose bekamen. Dabei kostet es Überwindung genug, mit Unterleibsschmerzen zum zum Arzt zu gehen, da menstruierende Menschen schon in der Pubertät lernen, dass diese Schmerzen heftig und unberechenbar sind, man über sie nicht spricht sondern die Zähne zusammenbeißt und sie aushält. Dies schwächt auch das Selbstbewusstsein, vor Arzt oder Ärztin darauf zu bestehen, dass es ein ernsthaftes Problem gibt, sodass lebensbedrohliche Erkrankungen rund um Eierstöcke, Eileiter und Gebärmutter häufig nicht oder zu spät erkannt werden. Die Bagatellisierung “weiblichen Leids” wird von Goethe und co. auch auf Vergewaltigungen oder Gewalterfahrungen von Frauen übertragen. So heißt es z.B. in der letzten Strophe des Heidenrösleins, nachdem der Knabe es gebrochen hat ganz beiläufig: ”Musst es eben leiden, Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden.” Die letzte Zeile bringt uns zurück zur Frau in der Natur und weiter zur Heide, dem freien Feld. Dies ist nämlich nicht nur der Ort, an dem sich der Aufenthalt für Frauen (im Gegensatz zu Bibliotheken, Schreibzimmern und Universitäten) theoretisch ziemt, sondern auch das Jagdrevier der Männer. Draußen in der weiten Welt, ist es absolut legitim Blumen zu pflücken und mit ihnen anzustellen was MANN will. So wird zum Beispiel Marie in “Die Soldaten” als “schönes Wildbret” bezeichnet, nachdem Desportes hat durchblicken lassen, was er mit ihr anzustellen gedenkt. Auch einige frauenverachtende Begriffe wie Luder (als Köder ausgelegtes, totes Wild), Schnalle (Vulva einer erschossenen Füchsin) und Schachtel (Wild, dass keinen Nachwuchs mehr bekommt, also “leer” ist) stammen aus der Jagdsprache. Die Botschaft ist, dass es das beste für eine Frau ist, sich nicht allein draußen herumzutreiben. Da trotz dieser Botschaft die meisten Vergewaltigungen in der Literatur dieser Epoche in Häusern oder Dörfern, also der Zivilisation stattfinden, ist eine logische Schlussfolgerung diese: Die Frau selbst ist der gefährdete und gefährliche Ort. Gefährdet, weil sie, zur falschen Zeit am falschen Ort stets der Gefahr einer Vergewaltigung ausgesetzt ist und gefährlich, da sie mit ihrer bloßen Existenz selbst dafür verantwortlich ist, dass Männer triebhaft auf sie reagieren und sie dadurch nicht nur ihr eigenes seelisches und körperliches Wohl, sondern auch ihre Unschuld und die Ehre der Familie gefährdet.

Der Sturm:

Genau diesem Dilemma erliegt auch Emilia Galotti. Obwohl sie ein frommes und fügsames Mädchen ist, spürt sie am Ende ihre eigene Sexualität und Verführbarkeit in sich aufkeimen. Auf den ersten Blick, lässt sich der Sturm als Sexualtrieb des Prinzen deuten. Der Sexualtrieb des Mannes ist eine “Naturgewalt”, vor der die Frau sich in Acht nehmen sollte. Dies ist bis heute ein bekanntes Narrativ zur Täter-Opfer-Umkehr in Vergewaltigungsfällen. Bei näherer Betrachtung handelt es sich beim “Sturm” allerdings eher um Emilias Galottis Sexualität. So sagt sie zum Beispiel (Fünfter Aufzug, siebenter Auftritt) zu ihrem Vater, der ihr sagt, ihre Unschuld sei über jede Gewalt erhaben: “Aber nicht über jede Verführung. – Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt.” Damit greift sie abermals das Narrativ auf, dass keine Frau sich der Gewalt eines Mannes, der mit ihr schlafen möchte unterwerfen müsste, dass es aber am Ende jede tut, weil sie es tief im Innern selbst will. Sie beschreibt das Haus des Prinzen als Haus der Freude, in dem sich so mancher Tumult in ihrer Seele erhob, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen können. Der Sturm schein also eher Emilias Sexualität zu sein und die Entblätterung der Verlust ihrer Unschuld (ob durch konsensualen Sex oder Vergewaltigung tut dabei nichts zur Sache, da der Unterscheid für nichtig erklärt ist). Sie wählt den Tod, um die Entdeckung der eigenen Sexualität zu unterbinden und stiftet ihren Vater an, sie umzubringen.

Handlungsunfähigkeit als Ideal:

Emilia Galotti ist handlungsunfähig: Weder kann sie der Verführung des Prinzen widerstehen noch bringt sie es über sich, die Ehre ihrer Familie beschmutzen. Der einzige Ausweg ist der Tod, doch aus religiösen Gründen kann sie sich nicht selbst umbringen, sie probiert es kurz, wird aber von ihrem Vater davon abgehalten. Daraufhin zieht sie eine Haarnadel und möchte sich damit erstechen. Dies ist eine weitere Metapher: Goethes Heidenröslein sticht den Knaben (mit seinen Dornen) und Marie sticht Desportes während einer Shäkerei mit einer Nadel bevor er sie vergewaltigt. Die Frauen wehren sich also, können jedoch (mit ihren dürftigen Waffen) nichts ausrichten. Ihre Handlung wird nicht als solche verstanden, sondern lediglich als Handlungsaufforderung an die Männer. Im Falle des Heidenrösleins und der Marie, ist es ein “sich zieren”, was ihre Vergewaltiger anspornen soll, in Emilias Fall ist es eine Ermutigung an ihren Vater, sie umzubringen und seine Tat später als gerechtfertigt zu betrachten. Sie versucht ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen, kommt aber am Ende doch nicht ohne ihren Vater und seinen Dolchstoß aus.

Die Irre:

Doch wer hat dem Vater den Dolch gegeben? Das war die Gräfin Orsina, eine Mätresse des Prinzen, die in keinster Weise dem zeitgenössischen Ideal der Frau entspricht. Während Emilias Vater unbewaffnet im Schloss des Prinzen eintrifft, hat die Gräfin vorausschauender Weise einen Dolch mitgebracht. Diesen gibt sie dem Vater, noch darüber scherzend, dass sie noch Gift hätte, das aber nur etwas “für uns Weiber” sei, also die Waffe der verdorbenen Frauen, hinterhältig und ehrenlos wie diese Frauen selbst. Der Vater bedankt sich bei ihr und nennt sie ein “liebes Kind” was eine recht niedliche Bezeichnung für eine bewaffnete Frau ist. Anders als Emilia, sucht Orsina nicht alle Fehler bei sich selbst. Sie hält zum Ende des Auftritts einen wütenden Monolog in dem Sie davon träumt, sich gemeinsam mit allen anderen, vom Prinzen ausgenutzten Frauen an ihm zu rächen: “Wann wir alle, in Bacchantinnen, in Furien verwandelt, wenn wir alle ihn unter uns hätten, ihn unter uns zerissen, zerfleischten, seine Eingeweide durchwühlten, – um das Herz zu finden, das der Verräter einer jeden versprach, und keiner gab! Ha! das sollte ein Tanz werden!”

Orsina ist laut, wütend, eine Verführerin, die offen mit ihrer Sexualität umgeht und eine wunderbare Antiheldin. Sie wird allerdings als völlig irre dargestellt. So sprechen schon im ersten Aufzug (sechster Auftritt) der Prinz und sein Diener folgendermaßen über sie: “Marinelli: …Sie hat zu den Büchern Zuflucht genommen; und ich fürchte, die werden ihr den Rest geben. Der Prinz: So wie sie ihrem armen Verstande auch den ersten Stoß gegeben.” Sie wird also für verrückt erklärt, weil sie als Frau liest und denkt. Nun ja, sie kommt nicht gut weg aber wenigstens kommt sie vor.

Femizid:

Abschließend muss gesagt werden, dass am Ende des Stücks ein Femizid steht. Der Vater opfert seine Tochter – Aufforderung hin oder her – zugunsten der Familienehre. 2018 gab es in Deutschland jeden dritten Tag einen Femizid, also einen Mord an einer Frau, der von ihrem Partner, Ehemann oder Ex-Partner begangen wurde. §210 des Strafgesetzbuches legt eine vermilderte Strafe für Totschlag fest, wenn dieser im Zustand emotionaler Erregung oder Eifersucht stattfand oder durch schwere Beleidigung provoziert wurde. Das trägt dazu bei, dass Morde an Frauen weiterhin verharmlost und als “Ehrenmord” oder “Familiendrama” dargestellt werden. Dass ein Buch, in dem ein Femizid vorkommt, in einem Schulfach gelesen wird, in dem Femizide wohl von den wenigsten Lehrpersonen und wenn dann wohl kaum sehr umfassend thematisiert werden, ist Ausdruck einer andro- und eurozentristischen Denkweise: die großen, DEUTSCHEN, WEISSEN, DichtER und DenkER, hier sind sie, der Grundstein unserer KULTUR, Was, 12. Klasse? hat hier jemand Regelschmerzen? Macht hier jemand gerade erste, schmerzhafte Erfahrungen mit Sexualität, Scham und Unterdrückung? Schwamm drüber, das liegt in eurer NATUR! Bühne frei für G.E. Lässig und seine Kumpels, denen wir alles zu verdanken haben, worauf die Arroganz des weißen, deutschen Bildungsbürgertums fußt.

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