"Muss man als Kommunist automatisch Materialist sein?"
Was heißt es, ein Kommunist im bedeutsamen Sinne des Wortes zu sein? Ist das eine von vielen verschiedenen Ideologien, die sich alle in einem pluralistischen Spektrum denselben Rahmen der Rationalität teilen? Beschränkt sich der Unterschied zwischen Kommunisten und Liberalen darauf, dass beide dasselbe Ziel ("Wohlergehen") mit bloß verschiedenen Mitteln ("gesellschaftliche Planung" bzw. "freie Märkte") verfolgen? Um ein Kommunist in der Praxis zu sein, reicht es nicht aus, sich einfach "Kommunist" zu nennen oder meinetwegen "eine klassenlose, staatenlose Gesellschaft" zu wollen. Heute kann sich jeder Idiot oberflächlich mit dem Kommunismus identifizieren und gleichzeitig zutiefst reaktionäre, sogar absolut faschistische Positionen vertreten. Ich will mich so kurz wie möglich fassen, deshalb sage ich es sehr deutlich: Der Kommunismus ist keine willkürliche Präferenz, die man sich wie eine Lieblingsfarbe aussuchen kann, um dann seine Aktivität im Kontext der kapitalistischen Konsumgesellschaft zu reproduzieren. Wer für "eine klassenlose Gesellschaft" argumentiert, weil "seiner Meinung nach" nur diese "human" ist, "Wohlergehen" garantiert o.Ä., sollte am besten sofort aufhören, sich Kommunist zu nennen.
Marx - dessen Theorie nicht auf ihn selber, als Individuum, reduzierbar ist - hat sich nicht völlig grundlos oder bloß aus Jux mit Philosophie, den empirischen Wissenschaften etc. beschäftigt. Der Marxismus ist universell, gerade weil er sich eben nicht auf Politik und Ökonomie beschränkt, während alles andere nutzloses Elfenbeinturmgeschwätz ist, sondern stattdessen die menschliche, gesellschaftliche Praxis in ihrer Gesamtheit umfasst: Von Philosophie und Politik bis hin zu Sexualität und Kunst, alles existiert kongruent und in wechselseitiger Relation zueinander und kann insofern der Kritik unterzogen werden. Denn darum geht es: Der Sinn des Kommunismus ist nicht, ein "System" zu installieren, das - unter welchem Aspekt auch immer - "effizienter" ist als der Kapitalismus, sondern der Kern der Sache ist die bewusste Veränderung der menschlichen Praxis auf ihrer rohesten und nacktesten Ebene, radikal und in jeder denkbaren Hinsicht.
Marx' ethische Pflicht als Kommunist war die rücksichtslos kritische Hinterfragung von allen Dingen. Er hat beispielsweise die Religion nicht aus persönlichen Gründern kritisiert, sondern als archetypischer Kommunist: Der springende Punkt ist, dass die Religion nicht neben der Gesellschaft unabhängig (egal wie relativ) vom historischen Gesamtkontext existiert, sondern gerade als ein struktureller und wesentlicher Bestandteil einer definitiven Gesellschaft. Religion reproduziert die Ideologie, die die kapitalistische Gesellschaft konstituiert. Viele von denen, die sich als "Kommunisten" bezeichnen, glauben an einen Gott. Wenn sie mit dem praktischen Kommunismus konfrontiert werden, werden sie ihn abstoßend finden und sich gegen ihn stellen, nochmal, weil der Kommunismus nicht bei der vagen Vorstellung einer "klassenlosen, staatenlosen Gesellschaft" stehen bleibt, sondern die gesellschaftliche Praxis in ihrer Gesamtheit radikal transformiert, während ein religiöser Mensch an bestimmten Aspekten der menschlichen Praxis festhält, die im Kontext des Kapitalismus existieren. Deswegen kann man kein Kommunist sein, ohne gleichzeitig Atheist zu sein, und genauso kann man kein Kommunist sein, ohne gleichzeitig Materialist zu sein.
Ich sollte dennoch hinzufügen, dass ein tiefgründiges Verständnis des Materialismus und des Marxismus im Allgemeinen nahezu verloren gegangen ist. Um den Marxismus heute zu verstehen, reicht es nicht aus, Marx zu lesen. Das führt zu sicheren 100% zu einer formalen Interpretation von ihm. Wer ihn in unserem historischen Kontext begreifen will, kommt um Slavoj Zizek nicht herum.
"Dieser Satz ist eine Grundlage des Marxschen Denkens."
Gerade dieser Satz wird gerne überbewertet. Marx sagt hier nicht, dass das gesellschaftliche Sein und das Bewusstsein in einer deterministischen A-zu-B-Beziehung stehen. Das Bewusstsein ist kein nachrückendes, hinterherlaufendes "Produkt" des gesellschaftlichen Seins, sondern beides existiert kongruent miteinander, das ist der Punkt. Marx ging es vielmehr darum, dass die Menschen nie Bewusstsein über ihr gesellschaftliches Sein erlangten und die Geschichte daher eine zufällige und willkürliche Abfolge von "Unfällen" war. Der Kommunismus ist diese Erlangung, er ist nichts anderes, als bewusstes Geschichtemachen. Viele Kommunisten sprechen davon, dass die Verhältnisse erst schlechter werden müssen, sodass "die materiellen Bedingungen" zu einer Revolution führen. Sie begreifen nicht, dass der Kommunismus das Bewusstsein und die Kontrolle über die materiellen Bedingungen ist.
Wenn man schon den dialektischen Materialismus in einem Satz zusammenfassen will, dann beruft man sich lieber auf die 2. These über Feuerbach: Der Materialismus ist die Anerkennung, dass jede Wahrheit ausschließlich von der menschlichen Praxis abhängig ist und nichts anderes. Das würde dann auch jeglichen Determinismus ausschließen. Aber in dem einen Satz ist so unheimlich viel implizit, dass man es dabei auch nicht belassen kann. Es gibt keine kurze Erläuterung des dialektischen Materialismus. Such nicht nach einfachen Antworten, ein tiefgründiges Verständnis erfordert Arbeit und Auseinandersetzung mit schwierigen und komplizierten Fragen.
"Nach Marx ist der Mensch zunächst ein "Opfer" seiner Bedürfnisse"
Der Mensch ist kein "Opfer seiner Bedürfnisse" und das hat Marx auch nirgendwo behauptet. Bedürfnisse existieren nicht transhistorisch, sondern sind selber durch den gesellschaftlichen/historischen Kontext bedingt. Historische Epochen (was Marx als "Produktionsweisen" bezeichnet) drehen sich nicht um essentielle Bedürfnisse, nach der sich jede gesellschaftliche Ordnung richten muss, um sie zu erfüllen. Der springende Punkt ist, dass es eine solche Essenz des Menschen gar nicht gibt. Jede gesellschaftliche Ordnung hat ihre eigene Rationalität und bringt ihre eigenen Bedürfnisse hervor, die ausschließlich im Kontext der Reproduktion dieser gesellschaftlichen Ordnung existieren.
Natürlich haben Menschen (noch und leider) eine physiologische Basis, die sie reproduzieren müssen, um zu überleben - in anderen Worten, sie müssen essen und trinken, sie "müssen", zumindest um Nachfahren zu zeugen, Sex haben. Aber das ist eher eine tautologische Aussage und hat nichts mit dem Kern der Sache zu tun: Selbst wenn wir Hunger und Durst stillen müssen, um unsere bloße Existenz zu reproduzieren, tun wir das nicht instinktiv, sondern artikulieren diese Handlung bewusst, d.h. in Relation zu einem gesellschaftlichen Kontext. Deshalb sind wir auch dazu in der Lage, darauf zu verzichten, indem wir in den Hungerstreik gehen o.Ä.
Das ist der Punkt, an dem es kompliziert wird: Klassenantagonismen entstehen daher nicht, weil bestimmte Gesellschaften strukturell dabei versagen, irgendwelche essentiellen Bedürfnisse zu befriedigen, sondern weil sie strukturell dabei versagen, die Bedürfnisse zu befriedigen, die sie selber erzeugen. Ich weiß, es ist komisch und schwer zu begreifen, aber das ist der einzige Materialismus, der in der Tradition des Marxismus steht. Alles andere ist idealistischer Essentialismus, dessen logische Konsequenz Rassismus und Sexismus ist.
"die Gesellschaft befindet sich in einer permanenten Auseinandersetzung mit der Natur, mit dem Ziel, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen."
Die Natur bewusst zu transformieren und zu beherrschen ist selber ein Bedürfnis, man könnte eigentlich sogar sagen ein Selbstzweck. Es war Engels, der sagte, dass der gesellschaftliche Antagonismus mit dem Kommunismus endet, während der Antagonismus zwischen Mensch und Natur unendlich bleibt. Was die kommunistische Gesellschaft antreibt, ist die Unterwerfung der Natur unter die Kontrolle des Menschen. Im Kommunismus wird dieser Prozess nur nicht durch gesellschaftliche Antagonismen behindert.
"Dieser Kampf ist nur mit Hilfe einer bestimmten materiellen und wirtschaftlichen Basis möglich"
Ja, aber findest du nicht selber, dass das völlig tautologisch und selbstverständlich ist? Man braucht nicht den Marxismus, um die Tatsache anzuerkennen, dass menschliche Praxis eine wirtschaftliche Basis benötigt. Ökonomie ist allein schon deswegen wichtig, weil wir, um unsere gesellschaftliche Praxis zu reproduzieren, essen etc. müssen. Das ist nicht der Punkt, an dem der Marxismus relevant wird. Die Kontroverse beginnt, wenn wir fragen: Was konstituiert menschliche Praxis an erster Stelle? Richtet sie sich nach irgendwelchen philosophischen, transhistorischen Prinzipien oder ist sie selber historisch und Philosophie ein Teil von ihr? Nochmal, Marx wollte nicht darauf hinaus, dass Geschichte und menschliches Bewusstsein durch die "materielle, ökonomische Basis" determiniert werden, ihm ging es vielmehr um die Kongruenz: Bewusstsein ist genauso materiell.