Leo Tolstoi hatte bekanntlich eine fundamentale Sinnkrise erlitten - wie denkt ihr über sein Fazit?

Ich bin immer wieder verwundert, dass Tolstoi sehr zu schwanken scheint - einerseits ein großartiger Autor, gefolgt von einer Sinnkrise in fortgeschrittenem Alter, aber auch ein Skeptiker.

Von ihm stammen Zitate wie „Wenn du Schmerz fühlen kannst, bist du am Leben. Wenn du den Schmerz anderer fühlen kannst, bist du ein Mensch“ zeigen tiefe Empathie und menschliche Entwicklung.

Seine existentielle Sinnkrise hat ihn sehr hart getroffen - er zog den Schluss, dass alles langfristig von Bedeutungslosigkeit ist, vergehen wird und sinnlos ist. Ihn hat die Sinnkrise also, zumindest temporär, sehr nihilistisch und pessimistisch gestimmt. Heute stellt sich die Frage, ob die Ursache in der Manifestation einer Depression liegt, was durchaus möglich ist.

Wenn ich mich richtig entsinne, fing er dann an zu Glauben. Nicht an eine bestimmte Religion, sondern an eine allgemeine Schöpfung und transzendente Bedeutung des Lebens. Er selber sagte aber, er redet sich das ein, um irgendwie klar zu kommen mit dem Leben.

Ich muss zugeben, ich teile den Gedanken nicht, dass das Leben sinnlos ist und dass nur Spiritualität helfen kann. Außerdem sind die meisten Gläubigen Menschen auf dieser Welt nicht aufgrund einer existentiellen Sinnkrise gläubig; vielleicht schon immer, aus freier Entscheidung, oder generell sehr glücklich damit. Gewiss erleidet nicht jeder Mensch eine Sinnkrise. Auch der Nihilismus ist eine Randposition innerhalb der Gesellschaft ( < 1%) und in der Philosophie (< 11%).

Meine Vermutung läuft auf eine Depression hin. Niemand kann sich daraus logisch befreien. Zudem müssen wir uns damit abfinden, nicht alles über das Leben, das menschliche Bewusstsein und das Universum zu wissen. Eines Tages wissen wir vermutlich sehr viel mehr als heute, weshalb ich langfristige Konklusionen ablehne.

Der Sinn des Lebens ist sicherlich subjektiv. Diese Ebene existiert, jeder Mensch hat eigene Interessen, Ziele und Beweggründe. Den subjektiven Sinn anderen auszureden erfordert extreme Arroganz oder sogar Böswilligkeit. Der Mensch kann subjektive Bedeutung schaffen - daraus entsteht Intersubjektiver Sinn, auf den sich Menschengruppen, Gesellschaften oder sogar ganze Nationen absprechen.

Objektiver Sinn von Leben und dem Universum ist nicht bekannt (zumindest wenn wir Biologie und Evolution nicht als dieses ansehen); aber von diesem Punkt, zur Konklusion zu springen, es GIBT keinen objektiven Sinn bzw. es KANN keinen geben, ist unwissenschaftlich und naiv. „Gap of knowledge is not evidence for nonexistence“. Oder „Absence of evidence is not evidence of absence.“

Ich werfe Tolstoi nicht vor, eine fehlgeleitete Person oder gar ein missmutiger Pessimist zu sein. Ich habe höchsten Respekt vor mentalen Erkrankungen wie Depression. Zumindest könnte ich mir so erklären, wie sich seine Art zu Denken und sein Wesen sich radikal verändert haben.

Jedenfalls hat all das inhaltlich

meine Impression von Tolstoi ein wenig beschädigt. Was denkt ihr darüber? Was haltet ihr von meinem Gedankengang?

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