Die Ansicht, alle Malerei sei Abstrakt, ist heute von denen akzeptiert, die keine künstlichen Abgrenzungen, keine Schubladen, in der Malerei dulden wollen. Gerade Matisse hat ja Gegenständliches verändert dargestellt, war aber immer in Bezug auf Gegenständliches geblieben, d. h. entnahm seine Motive seiner Umgebung, seiner Wirklichkeit. Reine Abstraktion, die Kandinsky zuerst als konkrete Malerei bezeichnet hatte, solle angeblich etwas außernatürliches, geistiges, neues, außerhalb menschlicher Erfahrung zeigen oder konstituieren können (dieser Ansicht bin ich nicht: https://sites.google.com/site/memartineller/zitate#TOC-ber-Abstraktion). Matisse gehört zu denen, die von der Gegenständlichen Malerei kommen und war am Anfang Autodidakt (wie ich auch) - das mag ihn zu der Erkenntnis gebracht haben, das jede Malerei abstrakt ist; man merkt es, wen man lange genug malt.
Ich arbeite seit ein paar Wochen mit hochaufgelösten Scanneraufnahmen meiner Gemälde; im kleinen sind das abstrakte Bildchen, die zusammengefügt und aus der ferne Betrachten dann den konkreten Bildgegenstand zeigen. Würde man so eine Detailaufnahme vergrößern, etwas unscharf auf eine große Leinwand bringen, hätte man ein abstraktes tachistisches Bild. Grundlegend abstrakt ist ja schon die Vorstellung, man könne einen Raum auf ebener Fläche darstellen, oder durch Farbflecken, Linien, Punkten etwas natürliches realistisch Darstellen. Dazu muss man "abstrahieren", sich vorstellen können, welche Pinselstriche und Farbanordnungen notwendig sind, um den Gegenstand auf natürliche Weise abbilden zu können.
Wenn man frei Farbflecken hinmalt, wird man doch korrigieren, Kontraste verschärfen, das vom Fragesteller beschriebene braun werden verquälter Farben zu vermeiden suchen usw. Man arbeitet wie ein Realist, entnimmt die Korrekturparameter seinem Gefühl und damit seiner eigenen Vorstellungskraft. Man nehme an, ein Inuit, ein Eskimo, der noch nie Farben außer weiß und grau gesehen hat, solle ein abstraktes Bild malen. Der wird seiner Vorstellung bei der Korrektur und Durcharbeitung seines Bildes eben nur seine bekannte Schneelandschaft zu Rate ziehen können, oder vielleicht das Rot, welches er beim Blick in die Sonne bei geschlossenen Augenliedern sieht. Er stützt sich auf seine Erfahrungen und kann nur soweit abstrahieren, als er bildhafte Vorstellungen in seinem Kopf besitzt, die er "abmalen" kann. Er wird keinen blühenden Apfelbaum malen oder eine Blumenwiese, die er nicht kennt. Er hat aber über hundert Wörter ins einer Muttersprache für die Farbe Weiß, um alle Schattierungen von Schnee und Eis beschreiben zu können. Nehmen wir einen traditionell ausgebildeten Chinesen, der nur die chinesische Malerei kennt. Sie ist für die Leserichtung von rechts oben nach links unten senkrecht komponiert, weil eben so auch geschrieben wird. Deshalb muten uns die chinesischen Malereien so merkwürdig anders an. Sieht der Chinese zum ersten mal ein europäisches Gemälde aus dem 17. Jahrhundert, wird er mit dem für die Leserichtung von links oben nach rechts unten waagrecht nichts anfangen können, ja, möglicherweise erkennt er zunächst erst einmal gar nichts auf dem Bild - wie ja auch Kandinsky zunächst auf den Heuhaufenbildern von Monet nichts erkennen konnte, die ihn dann zur Abstraktion bis zur konkreten Malerei ermutigt haben. Daran sieht man, wie wesentlich die Vorerfahrung ist.
Deshalb sage ich, das es Malerei a priori, vor aller Erfahrung also, nicht geben kann. Und deshalb stimme ich mit Matisse überein, das prinzipiell kein Unterschied zwischen realistischer und abstrakter Malerei besteht. Dafür werden mich jetzt viele Kunstliebhaber hassen.