fast täglich

Ich fall zwar schon ein wenig aus der Altersklasse, würde aber ganz gerne meine persönliche Geschichte zu diesem Thema einbringen:

An meiner Schule gab es diesen klischeehaften Widerling, der einfach größer und breiter gebaut war als seine Altersgenossen, und diesen Umstand hat er nur allzu oft und vor allem gerne ausgenutzt. Als schmächtiger, schüchterner 14-jähriger Junge war ich für den natürlich ein gefundenes Fressen und da ich in dem Alter keine wirklichen Freunde hatte, hat sich auch niemand groß dafür interessiert, dass er mich beinahe täglich beleidigt, erniedrigt und herumgeschubst hat. Außerdem hätten sich die meisten auch gar nicht getraut, sich ihm in den Weg zu stellen, da er sich ansonsten auch an ihnen vergriffen hätte.

Wäre ich noch einmal in dem Alter und in der Situation, wüsste ich genau, was zu tun ist: Den Arsch verpfeifen. Meine Eltern informieren, den Klassenvorstand, den Direktor... und auch den Schulsprecher, damit wirklich alle wissen, dass es da ein degeneriertes Ekelpaket gibt, das Leute schikaniert, die ihm nicht das Geringste getan haben und dass so etwas nicht gebilligt wird!

Leider hatte ich zu dieser Zeit aber eben noch nicht die nötige Lebenserfahrung und das Selbstvertrauen, so für mich einzustehen. Stattdessen war ich der festen Überzeugung, dass die Situation noch viel schlimmer werden würde, wenn ich erst bei all meinen Mitschülern als Petze untendurch bin. Zuhause lief es auch nicht viel besser, da die Ehe meiner Eltern zunehmend zerbrach und mein cholerischer Vater aufgrund seiner Unzufriedenheit eine tickende Zeitbombe war. Ich fühlte mich nirgendwo mehr wohl, da ich keinen sicheren Rückzugsort mehr hatte.

Irgendwann hatte ich dann genug und als mein Peiniger mich mal wieder vor der halben Schule an der Straßenbahnhaltestelle bloßstellen wollte, gab ich ihm voller Wut einen Rempler... der rein gar nichts bewirkt hat, da ich viel zu schwach war. Stattdessen hat er mich auf den Boden geschleudert, mit dem Gesicht auf die Schienen gedrückt und mir geraten, nie wieder zu versuchen, mich ihm entgegenzustellen (ich möchte an dieser Stelle noch einmal festhalten, dass ich diesem Menschen NIEMALS irgendetwas zuleide getan habe...). Ich hab ihm dann in die Augen geschaut und ihm geschworen, dass sich sein Verhalten rächen wird. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen. Aber er wird dafür büßen. Für diese Aussage habe ich Spott geerntet, nicht nur von ihm, sondern auch von den Feiglingen um ihn herum, von denen keiner jemals in Betracht gezogen hat, Zivilcourage für einen hilflosen Jungen zu zeigen. Und dennoch hab ich mich gut gefühlt in dem Moment - weil ich mir trotz dieser öffentlichen Demütigung meinen Stolz und meine Würde bewahrt habe.

Sieben Jahre später. Ich habe die Schule geschmissen, eine toxische Beziehung mit einer Borderline-Patientin hinter mir, den Kontakt zu meinem Vater abgebrochen und bin mehrmals die Woche hackedicht. ABER: Ich habe eine neue, stabile Beziehung mit einer liebenswerten Frau, einen coolen Freundeskreis, wo auch jeder offen über seine Gefühle sprechen kann, eine kleine, aber eigene Wohnung, mache eine Ausbildung im Sozialbereich und betreibe vier Tage in der Woche Kraftsport. Zu diesem Zeitpunkt mag ich viele falsche Entscheidungen getroffen haben. Aber zumindest bin ich kein verängstigtes Kind mehr, das sich alles gefallen lässt. Ich bin stark, selbstbewusst und stolz darauf, denn das habe ich mir hart erkämpft.

An einem ruhigen Abend (an dem ich eigentlich lernen sollte) fällt mir plötzlich wieder dieser Arsch von früher ein, den ich nicht mehr gesehen habe, seitdem er nach der Unterstufe Gott sei dank die Schule gewechselt hat. Mich packt die Neugier: Was ist wohl aus dem geworden? Wie würde er reagieren, wenn wir uns jetzt wieder sehen würden? Wie würde ICH reagieren? Und besonders wichtig: Würde er mich wirklich nochmal angreifen, wäre ich ihm dann mittlerweile gewachsen? Immerhin bin ich seit Jahren nicht mehr im Armdrücken geschlagen worden!

Meinen "Was wäre, wenn"-Gedanken völlig verfallen lege ich die Ernährungslehre-Unterlagen zur Seite und nutze die größte Errungenschaft der Moderne für meine Recherchezwecke: Das Internet.

Auf Facebook werde ich auch relativ schnell fündig. "Ha!", denke ich mir, "Mit dem Lauch wisch ich den Boden, wenn er mir nochmal zu nahe kommt - vor dem hatte ich früher ernsthaft Angst?!" Dabei fällt mir auf, dass die Bilder allesamt nicht mehr ganz aktuell sind - das letzte wurde vor über zwei Jahren hochgeladen. Ich klicke mich ein wenig durch seine Friendlist und stoße dabei schließlich auf das Profil seines Vaters, das mir eine eine erschreckende Wahrheit offenbart: Mein Mobber lebt nicht mehr.

Er ist zwei Jahre zuvor im Alter von 19 Jahren mit überhöhter Geschwindigkeit gegen einen Baum gekracht, als er am Steuer seines Autos eine SMS geschrieben hatte. Er war der einzige Sohn seiner Eltern, deren Leben von dieser Tragödie wohl für den Rest ihrer Tage überschattet sein wird.

Schockiert darüber, wie wörtlich das Schicksal meine Ankündigung nahm, als ich mich damals gegen ihn zur Wehr gesetzt habe, ringe ich mit mir, ob ich seinen Eltern kondolieren, oder zumindest sein Grab besuchen soll, um mit der Geschichte abzuschließen. Doch ich entscheide mich dagegen. Gleichwohl ich wirklich nicht seinen Tod wollte, sondern nur mit Achtung behandelt werden, so komme ich doch nicht umher, mir zu denken: Selber schuld! Denn letztendlich wurde ihm gerade seine Arroganz und seine Überheblichkeit zum tödlichen Verhängnis.

Mein Mitgefühl gilt auch heute noch seinen Eltern und allen anderen, denen er wichtig war. Sein eigenes Kind zu überleben ist wohl das schlimmste, was einem im Leben passieren kann. Ihm selbst jedoch werde ich niemals nachtrauern. Und ich kann nur jeder und jedem in einer ähnlichen Situation raten: Wehr dich! Wehr dich, selbst wenn du auf's Maul kriegst! Zeig keine Angst, egal wie gern du eigentlich davonlaufen würdest! Aber vertrau dich anderen an - das ist kein Verpfeifen, sondern die logische Konsequenz aus respektlosem oder sogar bedrohlichem Verhalten. Und schau auch nicht weg, wenn dir auffällt, dass jemand anderes betroffen ist. Je mehr Menschen ein Bewusstsein dafür erlangen, wie viel einfacher das Leben sein kann, wenn man achtsam und respektvoll miteinander umgeht, desto weniger unschuldige Kinder werden solchen Schikanen ausgesetzt sein.

Ich bedanke mich für's Durchlesen!

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