Hey du!
Was man nun von der Zeit und ihrer Existenz halten mag, bleibt jedem selbst überlassen. Wir Menschen haben uns eben irgendwann mal darauf geeinigt, etwas, das wir Zeit nennen, mithilfe von Uhren und Kalendern zu erfassen, um unser Zusammenleben planbarer zu machen. Die Uhrzeit oder das Datum ist ein objektiv erfassbarer Wert (der mit dem persönlichen Zeitempfinden nichts zu tun haben muss). Und genau um diesen Wert geht es beim "Zeitgewinnen".
Angenommen ich muss bis 19 Uhr ein Essen für mehrere Personen auf den Tisch bringen. Angenommen es ist jetzt 19 Uhr. Angenommen das Essen ist nicht im Geringsten fertig (der Braten ist noch nicht durch/ die Knödel sind noch nicht geformt/ whatever). Der Blick zur Uhr sagt mir dann, dass ich keine Zeit mehr habe. Denn alle Anwesenden besitzen eine Uhr, jeder hat um 19 Uhr mit dem Essen gerechnet. Jetzt muss ich also Zeit gewinnen. Je nach Anlass könnte ich ganz profan sagen, dass ich leider noch nicht fertig geworden bin. Ich könnte die Gäste auch ablenken, indem ich ihnen erst das Haus zeige oder ihnen einen Aperitif reiche. Ich könnte auch aus irgendwas aus dem Vorratsschrank einen kleinen Appetitanreger zaubern, so dass die Gäste denken, das gehöre schon zum Essen und es gäbe keine Verspätung. Mit keiner dieser Maßnahmen, gewinne ich wirklich Zeit. Denn Fakt ist: Das Essen stand nicht um 19 Uhr auf dem Tisch und wird nicht um 19 Uhr auf dem Tisch stehen. Ich werde definitiv später servieren. Aber: ich schaffe gesellschaftliche Akzeptanz für diese Verspätung. Ich habe Zeit, nachzuholen, was ich bisher nicht geschafft habe.
Und ich denke, genau das ist gemeint, wenn jemand davon spricht, Zeit zu gewinnen: Er versucht eine Fristverlängerung (in welcher Form auch immer) zu erreichen und somit mehr Zeit zur Verfügung zu haben, als ursprünglich dafür vorgesehen war.
Deine Beispiele passen also meiner Meinung nach beide nicht so ganz zur geläufigen Benutzung des Ausdrucks "Zeit gewinnen".
Weitere Beispiel, die mir spontan einfallen:
- Seminararbeit Abgabetermin: Der Student muss sich etwas einfallen lassen, damit er erst in einer Woche abgeben muss
- Job Zusage: Der Bewerber muss sich etwas einfallen lassen, damit er noch das nächste Probearbeiten in einer anderen Firma abwarten und danach entscheiden kann.
- Geiselnahme im Krimi: Die Beamten müssen sich etwas einfallen lassen, damit der Geiselnehmer niemanden erschießt, bevor seine Forderungen erfüllt werden.
So wie ich den Ausdruck bis jetzt erlebt habe, hatte er nie etwas damit zu tun, für sich persönlich Zeit zu gewinnen. Es ging dabei immer darum, dass eine Verspätung welcher Art auch immer von anderen akzeptiert wurde.
Hoffe, ich konnte helfen! Interessante Frage übrigens, habe mir beim Schreiben selbst erst richtig Gedanken dazu gemacht, wie ich diesen Ausdruck deute und wenn ich die Antworten der anderen so durchlese, sehe ich, dass das anderen vielleicht ähnlich gegangen ist und das ziemlich interessante weitere Fragestellungen aufwirft :)
Liebe Grüße!