Warum muss ich diese Seite schreiben?

Ich sitze da und schreibe diese Seite ab. Die ganze Seite. Ich ärgere mich, weil ich heute nach der Schule lieber etwas Anderes gemacht hätte. Ich hätte zum Beispiel Hausaufgaben erledigen können, hätte durch die Stadt laufen, mit Freunden treffen oder einfach nur faulenzen können. Stattdessen sitze ich hier am Tisch und muss schreiben. Schmieren und unleserlich schreiben, um möglichst schnell fertig zu werden, ist zwecklos, denn dann muss ich diese Seite noch einmal schreiben. Sollte ich auf die Idee kommen Worte oder sogar ganze Sätze wegzulassen, nützt mir das noch weniger, denn auch dann darf ich mit dieser Seite nochmalige Bekanntschaft machen. 

Ist mein Lehrer vielleicht ein kleiner Sadist, der gerne Schüler quält? Oder steckt er mit dem Schreibwarenhändler unter einer Decke und teilt sich mit ihm den Gewinn für Schreibpapier und verbrauchte Tinte, die ich hier „verschwende“? Oder muss ich den Grund dafür, dass ich diese Seite schreiben muss, doch bei mir suchen? Wollte ich nicht schon lange einmal wissen, wann endlich der Geduldsfaden meines Lehrers reißt? Wollte ich nicht schon lange wissen, wie lange ich noch ungestraft davon komme? Wollte ich nicht wissen, was mir passiert, wenn ich trotz vieler Ermahnungen des Lehrers mein Verhalten nicht ändere? Wollte ich nicht wissen, wie viele Unterrichtsstörungen ungestraft bleiben. War mir nicht eigentlich klar, dass irgendwann das Maß voll ist? Wollte ich nicht genau diesen Punkt erreichen, der Punkt, an dem ich für mein Verhalten bestraft werde?

Warum belässt der Lehrer es dieses Mal nicht bei der knappen Ermahnung, die es sonst immer gab? Warum kann er nicht einfach sagen: „Beim nächsten Mal gibt es eine Nacharbeit“? Warum kann er mich nicht einfach an einen anderen Platz setzten, damit ich mit meinem Verhalten niemanden mehr störe? Warum kann er mich nicht einfach nach der Stunde zu sich holen und mich eindringlich verwarnen, dass er ein solches Verhalten nicht hinnimmt?

Eine peinliche Minute musste ich mir eine (kleine) Strafpredigt anhören. Dann war dieser ganze Spuk vorüber. Dachte ich zumindest. Jetzt sitze ich hier und die Seite, die ich abschreiben muss, findet kein Ende. Warum muss dieser Text auch so lang sein? Während ich so dasitze und schreibe, kreisen meine Gedanken. Und mir wird klar:

Eigentlich ist das wie in einem Zirkus: Der Tiger, der nicht gehorchen will, bekommt vom Dompteur, der das Tier zu einem bestimmten Verhalten erziehen möchte, eins auf die Pfoten. Wenn der Tiger schlau ist und ein gutes Gedächtnis hat, merkt er sich für die Zukunft, was passiert, wenn er ein falsches Verhalten zeigt.

Und was hat das nun wieder mit dieser endlosen Seite zu tun? Na klar! Jede Zeile ist eine Art Bestrafung von dem Dompteur. Jede einzelne Zeile tut mir weh und ärgert mich. Eigentlich will ich einfach nur fertig werden. Ich hatte schließlich Wichtigeres zu tun, als die Zeit hier abzusitzen. 

Vielleicht endet der ganze Ärger ja mit einem positiven Vorsatz von meiner Seite: Ich nehme mir vor, in Zukunft besser aufzupassen, Hausaufgaben sorgfältig zu erledigen, Störungen im Unterricht zu unterlassen und vor allem keine Mitschüler zu ärgern. Ich tue das vielleicht nicht nur, weil ich diese dämliche Seite nicht noch öfter schreiben möchte sondern weil ich einsehe, dass es nicht in Ordnung ist, wenn ich mich so verhalte, wie ich es getan habe. 

So langsam komme ich allerding ins Grübeln. Komisch, dass ich mich wie ein schlecht dressierter Tiger verhalte und der Lehrer sich wie ein Dompteur aufführen muss. Eigentlich peinlich für beide Seiten. Vielleicht könnten es beide in Zukunft anders probieren. Dann kann diese unangenehme Seite in der Tasche bleiben.

Jetzt sind es nur noch wenige Zeilen, dann habe ich diese Seite mit den seltsamen Themen „Erziehung“ und „Dressur“ endlich hinter mich gebracht. Das wurde auch Zeit! Diese Seite ist wahnsinnig lang. Na ja, auf jeden Fall war die investierte Zeit eine gute Rechtschreibübung, eine Schönschreibübung, eine Übung für ruhiges und konzentriertes Abschreiben. Ich werde garantiert einiges dafür tun, dass ich mit diesem Text so bald nicht noch einmal Bekanntschaft machen muss.

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