Ich bin 36 und habe bisher auch noch nie gearbeitet (von Gelegenheitsarbeiten abgesehen). Und scrolle einfach bis zum vorletzten Absatz, wenn du wissen willst, wie es jetzt aussieht ohne meine Lebensbeichte lesen zu müssen :-)
Nach einer Erkrankung kurz vor Abschluss des Studiums (mit 24) bin ich schwer erkrankt (Akut 1 Jahr, Nachwirkungen noch ca. 5 Jahre danach), und statt Bafög erst in Hartz 4 und dann in die "Sozialhilfe" abgerutscht. Ich wurde zweimal zum Amtsarzt geschickt, und nach bloßem Ansehen (keinerlei Leistungstests) als "arbeitsunfähig" abgestempelt. Ich wurde gezwungen mit 29 eine Rente zu beantragen. Da ich natürlich keinen Anspruch habe, blieb die Sozialhilfe (wie Hartz IV, nur es wird mehr weggenommen wenn man hinzuverdient).
Dort war ich geparkt und hatte 3 Jahre lang überhaupt keinen Behördenkontakt außer der jährlichen Aufforderung zum Schicken der Kontoauszüge. Dann habe ich mich wieder fit und gesund gefühlt und wollte unbedingt arbeiten. Doch niemand wollte mich auch nur für Hilfsarbeiten oder ein kostenloses Praktikum, FSJ oder was auch immer einstellen. Ich fragte beim Sozialamt, ob ich eine schulische Ausbildung machen könnte (PTA, BTA, Physiotherapeuten...) um meine Chancen zu erhöhen, aber nicht nur dass die nichts übernehmen, ich hätte alles gestrichen bekommen selbst wenn Freunde/Eltern mir das Schulgeld bezahlt hätten (was sie mit Freuden getan hätten).
Ich kämpfte dafür, auf das Jobcenter zurück zu wechseln, wo so etwas möglich wäre. Ich musste dafür kämpfen und Bürokratenpingpong spielen und zwei deutlich längere Begutachtungen über mich ergehen lassen, um zu zeigen, dass ich arbeitsFÄHIG bin. Nach ZWEI (2) Jahren hatte mein Anstürmen Erfolg, ich empfing wieder SGB II (Hartz IV) statt SGB XII (Sozialhilfe).
Und dort musste ich weitere Hürden einreißen, hatte mich erneut um Praktika, Probearbeiten etc. beworben, dem "Kundenberater" gesagt, ich würde alles probieren - ein geschlagenes Jahr kam NICHTS. Null. Niente. Rien. Absagen über Absagen. An kostenloser Arbeit für bis zu drei Monate (!) war niemand interessiert. Ich brachte wieder die Idee mit der bezahlten schulischen Ausbildung, aber da hieß es wieder, ich würde alles gestrichen bekommen, da ich dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stünde (nach einem Jahr JC und null Angeboten..).
Aus Trotz meldete ich mich auf einen BTA Schulplatz an (technische Assistenz, Ausbildungsberuf für mittlere Reife, habe selber Abitur). Die Prüfung und Anmeldung war im Februar, und Start, wenn ich genommen würde, wäre August. Ich bekam ein Schreiben von der Schule, dass ich nicht angenommen wurde, aber durch Absagen bis zum Sommer "in die Klasse rücken könnte". Ich sah darin meine letzte Chance, lebte auf Sparflamme, um eventuell zwei Jahre auch ohne Amt zu leben.
Denn wenn man krank ist, hat man andere Sorgen. Wenn man aber gesund ist, ist zuviel Freizeit ein Fluch. Da kann man noch so viel Bücher lesen, die besten Computerspiele spielen oder den ganzen Tag Fahrrad fahren. Es ist kein erfüllendes Leben und ich sah in einer Ausbildung meine letzte Chance, da raus zu kommen. Ich war verzweifelt genug, zwei Jahre lang mir irgendwie alles selber zu finanzieren, und wenn ich ohne Krankenversicherung wäre. Ich hatte das dem Berater, von dem ich seit einem Jahr kein Angebot bekommen hatte, auch so gesagt. Ich wurde noch zweimal zu psychologischen Untersuchungen (Maßnahmen gemeinsam mit anderen Arbeitslosen) eingeladen.
Ende Juli 18, ich war 34, bekam ich vom JobCenter einen Anruf, dass ich bei der BTA-Schule nachgerückt wäre, sie alles finanzieren würden und ich am nächsten Morgen um 07:00 Uhr dort zur Unterschrift antanzen sollte. Selbstverständlich war ich da. Und begann, mich mit 34 noch mal auf einen Schulalltag mit ca. 19-21 jährigen vorzubereiten.
Aber auch hier erfuhr ich Hürden - nicht durch die Schule. Ich bewarb mich wieder - Ich war mobil, nach den Schulzeiten flexibel und suche Arbeitspraxis - klingt doch nach guten Argumenten für eine Aushilfsstelle, oder? Kein Labor, kein Wasserwerk hat mich auch nur zum Kennenlernen eingeladen, auch jetzt, wo ich Fachschüler war.
Für die schulische Ausbildung mussten wir Plätze für ein zweimonatiges Praktikum in den Sommerferien suchen. Ich hatte erst nach der 22. Bewerbung eine Zusage, bei einer Stelle, die jedes Jahr mindestens einen von unserer Schule nahm. Davor etliche Absagen auch von Firmen ("Wir können nicht", "Wir suchen nicht"...), die NACHHER Zusagen an meine Mitschüler gegeben haben....
Ein Jahr später, selbst Corona konnte unseren Abschluss im Juni nicht verhindern. Ich schloss als Klassenzweitbester mit nur wenigen zweien (in Nebenfächern und Teilnoten) ab, hatte 0 Fehlstunden.
Und ich hatte zum ersten Mal im Leben Einladungen bekommen. Nach 10-15 Absagen. Teils live, teils wegen Corona telefonisch. Nicht zu viele, und dann bekam ich doch nur Absagen. Nachdem viele Mitschüler, denen ich teils in Mathe usw. geholfen hatte und teils vielen Fehlstunden, längst eine Stelle hatten.
Seit März schon hatte ich mich durchgehend beworben, das JobCenter hatte die Bewerbungen durchgesehen und nur kleine Verbesserungsvorschläge gebracht, ich hatte mich in zwei Probegesprächen mit psychologischen Beratern vom JobCenter "sehr gut verhalten", und trotzdem saß ich noch im Oktober verzweifelt rum.
Dann kam noch ein Vorstellungsgespräch, und obwohl ich nervös war, bekam ich zum ersten Mal nachher eine Vorladung für ein "zweites Gespräch". Ich war noch viel nervöser, dachte hätte es verkackt.
Mit 36, noch nie im Leben gearbeitet, 12 Jahre Stütze (davon 4 "verrentet"), 5 Jahre nach meiner Genesung und meinen ersten Versuchen, doch noch was im Leben zu machen,...
...ja, jetzt mit 36 habe ich meinen ersten Vollzeitarbeitsvertrag unterschrieben. Unbefristet. 1 800 Netto. 40 h-Woche. Interessante Tätigkeit.
Aber was wäre, wenn das nicht gewesen wäre? Meine Erfahrungen haben mich sehr vom Glauben abkommen lassen, dass wir in einer "Leistungsgesellschaft" leben. "Fachkräftemangel" - eine dicke Lüge, die wollten mich nicht mal zum Probearbeiten einladen. Es scheint in den Köpfen wirklich drinzustecken "einmal langzeitarbeitslos, immer langzeitarbeitslos" und wenn ich das bisschen Quäntchen Glück jetzt nicht gehabt hätte, hätte ich auch in den folgenden Monaten in einer reaktiven Depression zurück in der Sozialhilfe landen können - weil niemand mir eine Chance geben wollte - bis jetzt. Es IST möglich. Aber auch verdammt hart und vom Glück abhängig.