Über Jugendsünden und Rücktrittsforderungen
Der politische Skandal um Aiwanger und das Flugblatt

Erst ein paar Tage ist es her, als ein Papier aus dem Schuljahr 1987/88 aufgetaucht ist. Seitdem bereitet das Flugblatt der bayerischen Koalition zwischen den Freien Wählern und der CSU die wohl turbulentesten Tage seit langem.

gutefrage-Redaktion
29.8.2023
Bayerische Flagge im Wind

In Bayern ist in wenigen Wochen Landtagswahl. Aktuell setzt sich die Regierung zusammen aus einer Koalition zwischen der Christlich-Sozialen-Union (CSU, Schwesternpartei der CDU) und der Freien Wähler unter Führung des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder. Doch nun steht der Parteivorsitzende der Freien Wähler, der zeitgleich auch der stellvertretende Ministerpräsident von Bayern sowie der Bayerische Staatsminister für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie ist, im Zentrum massiver Kritik. Der Grund dafür: Ein Flugblatt aus seiner Schulzeit.

Das Flugblatt aus Aiwangers Schulzeit

Laut der "Süddeutschen Zeitung" könnte Hubert Aiwanger der Verfasser eines kürzlich aufgetauchten Flugblattes aus dem Schuljahr 1987/88 sein. Zu diesem Zeitpunkt war der Parteivorsitzende 17 Jahre alt.
Das Schriftstück enthält menschenverachtende und den Holocaust verhöhnende Passagen. Laut anonymen Zeugen wurde Hubert Aiwanger noch im entsprechenden Schuljahr für dieses Papier zur Verantwortung gezogen und bestritt damals nicht, der Urheber gewesen zu sein. Als Strafe wurde ihm wohl ein Referat auferlegt. Er selbst sagte, unter Druck ging er darauf ein und somit war für die Schule der Fall abgeschlossen.

Aiwangers Reaktion und das Geständnis eines anderen Aiwangers

Es dauerte einige Stunden nach der Veröffentlichung, bis Hubert Aiwanger selbst reagierte. Er erklärte, selbst nicht der Verfasser gewesen zu sein und distanzierte sich ausdrücklich von den Inhalten des Flugblattes. Der tatsächliche Urheber allerdings sei ihm bekannt - doch dieser würde sich selbst äußern.

Tatsächlich bekannte sich kurz danach Hubert Aiwangers älterer Bruder, Helmut Aiwanger, dazu, das Papier verfasst zu haben. Auch er distanzierte sich ausdrücklich von den Inhalten des Flugblattes. Als Grund für die Entstehung benannte er seine damalige Wut darüber, dass er ein Schuljahr wiederholen musste und somit von seinen Freunden getrennt wurde.

Ein leeres Klassenzimmer

Offene Fragen und Reaktionen aus der Politik

Es gibt einige ungeklärte Fragen im Skandal um die Aiwanger Brüder und das Flugblatt.
So gibt es grammatikalische Formulierungen, die im Plural verfasst wurden, etwa "Wir hoffen auf zahlreiche Teilnahme". Ungeklärt ist, ob es sich vielleicht doch um ein Gemeinschaftswerk handeln könnte oder von einer fiktiven Gruppe die Rede ist.
Auch kann nicht mehr nachgewiesen werden, ob das entsprechende Referat, das damals als Strafe auferlegt wurde, tatsächlich gehalten wurde.
Skeptiker fragen sich zudem, weshalb Aiwanger erst so spät reagierte und nicht schon bei seinem ersten Statement den Hinweis auf den tatsächlichen Verfasser gab.

Mittlerweile hat der Ministerpräsident Bayerns die Freien Wähler zur Sitzung einbestellt. Aiwanger soll dort Fragen beantworten und Stellung nehmen. Für Markus Söder heißt es nun, schnell Farbe zu bekennen, wie seine Partei und er persönlich sich im Bezug auf den Skandal und potentielle weitere Zusammenarbeiten verhalten werden.

Auch Bundeskanzler Olaf Scholz drängt auf eine Aufklärung des Falles.
Robert Habeck sieht den Vorfall auch kritisch und bezweifelt, dass Hubert Aiwanger weiterhin im Kabinett bleiben soll.
Während die Grünen und die FDP noch auf die Reaktion von Markus Söder warten wollen, plädiert die SPD für eine Entlassung Aiwangers.

Ein Panorama der bayerischen Landeshauptstadt München

Uns hat interessiert, was die gutefrage-Community über das brisante Thema denkt

Aktuelle Nachrichten regen immer zu Diskussionen an. Deshalb hat uns interessiert, was die gutefrage-Community im Skandal um Aiwanger sieht und wie sie diesen und Aiwangers Statement bewerten. Dabei gingen die Meinungen teils stark auseinander.

Einige sehen in dem Skandal eine gezielte Taktik kurz vor den Landtagswahlen, wie etwa der Nutzer rr1957:

Es handelt sich ganz offensichtlich um eine zur anstehende Landtagswahl zeitlich abgestimmte Kampagne, mit der die Wählerentscheidungen gezielt beeinflusst werden sollen.

Ich werde versuchen, dies zu ignorieren bei meiner Wahlentscheidung, da ich nicht in solcher Weise manipuliert werden möchte. (Und ja, Aiwanger hat in letzter Zeit einen recht guten Eindruck hinterlassen, ich glaube ich werde diesmal erstmals FW wählen, hatte das jedenfalls vor dieser Kampagne vor, hab das sogar bei einer telefonischen Meinungsumfrage so angegeben.)

Sind solche Daten aus der Schulzeit denn wirklich allgemein zugänglich ? (wir haben damals auf dem Schulhof auch z.B. Pornohefte getauscht, kann so was jederzeit rausgezogen werden heute ???)

Und ich hab nun endlich in einem der Videos das fragliche Flugblatt selber gelesen:

es handelt sich um superdick aufgetragene Provokation auf Schülerniveau, sprich eine Ansammlung strikt verbotener Ausdrücke, ohne jeglichen tieferen Sinn dahinter. Ja, es ist antisemitisch, aber nicht aus Judenhass geschrieben, sondern weil das die stärkste Provokation gegen die Schule war, die dieser Schreiber finden konnte. Es sind grade mal so 23 Zeilen, und keinerlei persönlicher oder aktueller Bezug ist drin, und auch nichts was über die in der Schule gelernten Inhalte hinausreicht (also kein "rechtsextremes Gedankengut" über das hinaus was in der Schule als "super negativ" besprochen worden war).

Es ist IMHO bedauerlicher Kinderkram, eine typische Trotzreaktion, kann und sollte vergessen werden. Ich finde dies hier weniger schlimm als wenn z.B. Schüler Klappmesser dabei haben, was wohl auch häufiger vorkommt.

PS: ich finde übrigens, dass Aiwanger sich in dieser "Affaire" gegenwärtig völlig korrekt und geradezu vorbildlich verhalten hat: es war richtig, den Bruder nicht selbst zu benennen (sondern das diesem zu überlassen), und dies war auch glaubwürdiger als diesen gleich zu benennen.

Zur Antwort

Andere kritisieren zwar durchaus auch den Inhalt und empfinden diesen als unreif, finden es aber bedenklich, dass ein Skandal um ein so altes Dokument entfacht wird. Der Fokus sollte eher auf aktuelle Probleme gelegt werden, so empfindet es beispielsweise der Nutzer MarkusJaja:

Soweit man das Zitierte Interpretieren kann, handelt es sich wohl um eine gezielte Provokation eines sehr unreifen Schülers auf der mentalen Stufe eines 12-14-jährigen. Auch wenn statt dem heutigen Minister sein Bruder dies geschrieben hat (wie behauptet) und er als Bruder offensichtlich davon wusste, zeugt es auch nicht von sonderlicher Reife, wenn er ihn dann von diesem Quatsch nicht abgehalten hat. Diesen Dreck muss man nicht inhaltlich selbst kommentieren, allerdings kommt es mir auf die Metaebene an.

Ich finde es allgemein schon bedenklich, wenn Kram von Leuten aus der Schulzeit 30 oder 40 Jahre später rausgeholt wird. Jeder Mensch hat ein recht auf Privatsphäre und die eigene Kindheit und Jugend gehören dazu - auch bei Politikern. Es ist eine andere Sache, was irgendwelche Minister im Amt verbrechen (auch wenn das sehr lange zurückliegen sollte) oder wenn etwas erst kurz zurückliegt oder auf heute Einfluss hat. Es gibt genügen Dinge, die man Aiwanger heute vorwerfen kann und muss. Die Kindheit und Jugend sollte aber tabu sein.

Zur Antwort

Es gibt aber auch Stimmen, die eine direkte Verbindung zwischen dem politischen Auftreten Aiwangers und dem Flugblatt von früher sehen:

Ich denke, er war direkt daran beteiligt. Aufgrund seiner politischen Karriere will er jedoch möglichst keine negative Presse dieser Art. Sein Bruder, der offenbar nicht so in der Öffentlichkeit steht, nimmt daher die Schuld auf sich, zumal es ja auch eine Jugendsünde sein kann.

Wenn man Herrn Eiwanger längere Zeit beobachtet hat, kann man zu der Einschätzung kommen, dass so eine radikale Haltung zu ihm passt......ich erinnere nur an seine Ausfälle im Zusammenhang mit dem sogenannten "Heizungsgesetz".

Ich würde es für besser halten, wenn er zu seiner früheren Haltung steht und ggfs. die Konsequenzen trägt.
Denn es ist KEINE KLEINIGKEIT, wenn in dem Flugblatt "ein Freiflug durch den Schornstein" als Hauptgewinn dargestellt wird. Das ist m.E. nicht zu dulden, zumal Herr Eiwanger nicht 1945 oder 1955 in der Schule war, sondern in den 80ern des letzten Jahrhunderts.

Ill

Zur Antwort

Wie es im Skandal um Aiwanger weitergehen wird und ob noch vor oder erst nach den Landtagswahlen eine Entscheidung über dessen zukünftige Rolle in der Politik getroffen wird, bleibt vorerst abzuwarten.
Von maßgeblicher Relevanz wird Söders Reaktion und weiteres Vorgehen sein.


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