#gutesBuch: Eine Rezension zu “Vernichten” von Michel Houellebecq

gutefrage-Redaktion
22.8.2024

Eine Rezension zum mutmaßlich letzten Roman des Enfant Terribles der zeitgenössischen französischen Literatur.

Mit seinen Debütroman Ausweitung der Kampfzone avancierte Michel Houellebecq Mitte der 90er Jahre zum Shooting Star der französischen Literaturszene und legte den Grundstein für seinen Ruf als Skandalautor, den er über seine ganze Karriere hinweg beibehalten sollte. Spätestens mit dem Nachfolgewerk Elementarteilchen, der sich an der Zersetzung metaphysischer Werte im Rahmen der Moderne abarbeitete, gelangte Houellebecq dann auch zu internationalem Ruhm. Der Roman über ein an sich ungleiches Halbbrüderpaar, deren Lebensgeschichte jeweils durch die fehlende Beziehung zu einer egoistischen, zur Liebe unfähigen Mutter geprägt wurde, erhielt 2006 eine deutsche Verfilmung mit Moritz Bleibtreu und Christian Ulmen in den Hauptrollen.

In Houellebecqs Werken finden sich Menschen, die Liebe suchen, aber unfähig sind, wahre zwischenmenschliche Nähe aufzubauen oder zuzulassen. Er zeichnet diese Menschen mit viel Sympathie und Mitgefühl, sind doch seiner Überzeugung in erster Linie nicht seine Charaktere für ihr zwangsläufiges Scheitern verantwortlich, sondern die Gesellschaft, aus der sie entstammen. 2022 erschien nun mit Vernichten Houellebecqs mutmaßlich letzter großer Roman. In der abschließenden Danksagung kündigt der Autor an, mit dem Schreiben aufzuhören. Grund genug, einen näheren Blick auf den Abschluss seines Werkes zu werfen.

Vernichten: Ein Polit-Thriller?

Vernichten handelt vom Leben, dem Sterben und allem, was dazwischen passiert - insbesondere der Liebe. Vordergründig und untypisch für Houellebecq ist es aber auch ein Polit-Thriller, denn der Hauptcharakter Paul ist als Finanzinspektor im französischen Wirtschaftsministerium enger Vertrauter des potentiellen Präsidentschaftskandidaten Bruno und dadurch verwickelt in den Kampf um die Präsidentschaftswahl in der nahen Zukunft des Jahres 2027 - eine Wahl die sich ironischerweise kaum von den gegenwärtigen Wahlen unterscheidet. Abgesehen vielleicht von einigen mysteriösen Terroranschlägen, die entfernt an den Unabomber erinnern, aber nie aufgeklärt werden. In letzter Instanz sind diese ganzen Stränge aber auch nur Kulisse für die Themen, über die Houellebecq eigentlich schreiben möchte. Sie treten spätestens in den Hintergrund, als Paul mit existenziellen Fragen um Leben und Tod konfrontiert wird. Erst durch den Vater, der zum Pflegefall wird, dann über den Bruder, dessen Selbstmord ebenso unglücklich verlief, wie sein ganzes Leben. Und schließlich über die eigene Sterblichkeit, die Paul in Form eines bösartigen Tumors begegnet.

Späte Altersmilde bei Houellebecq

Am Ende ist Vernichten ein Roman über die Sinnsuche der Menschen in postmodernen Gesellschaften, über Familie und Ehe als letzten noch nicht kommodifizierten Rückzugsort, über Religion und über die Frage, wieso manche Menschen durchhalten und andere nicht. Dass schließlich gerade die persönliche Beziehung zu Gott - in Form Pauls stark gläubiger Schwester Cecile - und die bürgerliche Kleinfamilie als jene Möglichkeit einer Insel präsentiert werden, die Houellebecq schon in anderen Romanen suchte und die sich gewissermaßen als Leitmotiv durch seine Romane ziehen, mag allzu progressiven Geistern übel aufstoßen. Überraschend ist das nicht, präsentierte sich Houellebecq schließlich schon in den vergangenen Jahren als dezidiert konservativer und teils gar reaktionärer Moralist, der dem Zeitgeist stets sehr kritisch gegenüberstand. Der Wahrheit einiger seiner Beobachtungen, gerade über das Lebensende, wird man sich indes schwer entziehen können. Wenn es sich nun tatsächlich um Houellebecqs letzten Roman handelt, hat er mit Vernichten einen würdigen Abschluss für sein Werk gefunden. Trotz der Schicksalsschläge, die Paul widerfahren, ist Vernichten ein für Houellebecqs Verhältnisse überraschend optimistischer Roman. Man mag hier auch eine gewisse Altersmilde beim Autor vermuten. Sie steht ihm gut.

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