Warum ist Wechselstrom gefährlicher als Gleichstrom?

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Das stimmt so pauschal gar nicht.

Unser 50 Hz Wechselstrom ist relativ "gefährlich", weil er Herzrhythmusstörungen auslösen kann. Deshalb gelten gemäß VDE-Richtlinie auch niedrigere Berührspannungen für Wechselspannung (maximal 50 V), als für Gleichspannung (maximal 120 V).

(Wobei ich sagen würde die 50 V AC sind wohl noch einigermaßen "sicher", die 120 V DC hingegen sind wirklich "haarsträubend". Ich würde allerdings sicherheitshalber definitiv auch von einer Spannung über 50 V DC "die Finger lassen", auch wenn die "offiziell" noch nicht als "berührgefährlich" gilt.)

Für einen richtigen Hochfrequenztechniker ist die Netzspannung mit ihren 50 Hz aber auch kein richtiger "Wechselstrom" (die Frequenz ist sehr gering), sondern eher so etwas, wie "ein Gleichstrom, der langsam hin und her wabert". Je höher die Frequenz, also gewissermaßen "je stärker es tatsächlich Wechselstrom ist", desto geringer wird die Gefahr. Selbst die 60 Hz im US-Stromnetz sind bereits ungefährlicher, als die 50 Hz im europäischen und an Bord von Flugzeugen verwendet man Wechselstrom von 400 Hz, um die Gefahr von Stromunfällen zu verringern.

Gleichstrom ist gegenüber Wechselstrom dahingehend gefährlicher, dass er Ionen immer in die selbe Richtung schiebt. Nervenzellen "feuern", wenn eine bestimmte Anzahl an Ionen ihre Zellmembran durchdrungen haben. Beim Gleichstrom, der immer in die selbe Richtung fließt, passiert das früher oder später "notgedrungen". Die Nervenzellen werden definitiv feuern, die Stromstärke bestimmt, wie oft.

Bei Wechselstrom ist das anders. Hier kehrt sich die Stromrichtung nach einer halben Periodendauer um und "gleicht wieder alles aus". Integriert man selbst einen schwachen Gleichstrom über eine lange Zeit, kann er dennoch eine beträchtliche Ladung bewegen. Integriert man einen Wechselstrom über eine lange Zeit, bewegt er im Mittel überhaupt nichts.

Eine geringe Wechselspannung  (weit unter 50 V) ist eigentlich immer ungefährlich. Eine geringe Gleichspannung kann aber gefährlich sein, wenn man sie lange genug berüht. Es gibt das Gerücht, wenn man mehrere Stunden lang mit je einer Hand einen 9 V Block berühren würde, dann wäre das irgendwann tödlich. Klingt sehr nach einer "urban legend", aber ich würde es definitiv nicht ausprobieren wollen! Eine Wechselspannung dieser Größenordnung würde ich definitiv als ungefährlicher einstufen.

(Beide sind faktisch ungefährlich, aber bei einer Gleichspannung "könnte ich mir noch vorstellen, dass etwas passieren mag". Bei einer Wechselspannung gleicher Größe fällt mir das erheblich schwerer.)

Wenn man nun wirklich in den Bereich "Wechselspannung" geht und die Frequenz weit genug anhebt, dass die Wechselspannung sich tatsächlich wie eine solche verhält und nicht "wie eine langsam wabernde Gleichspannung", dann wird es noch viel ungefährlicher. Ich habe selbst einmal eine Spannung von 700 V eff. bei 112 kHz versehentlich berührt. Ich habe mich erschrocken und schnell zurückgezogen, damit keine thermischen Schäden entstehen. Schmerzhaft? Kaum, hat nur ein bisschen gekribbelt. Muskelreaktion? Null! Würde ich sagen, ich habe unglaubliches Glück gehabt und beim nächsten Mal würde ich wahrscheinlich sterben? Nein, ich denke nicht. Würde ich es herausfordern wollen? Nein, definitiv nicht!

Wenn das Gleichspannung gewesen wäre, wäre es wohl sehr dumm ausgegangen.

Die 112 kHz waren jetzt auch noch nicht soooo "hoch". Wenn Du mit der Frequenz in den MHz-Bereich gehst, kannst Du Deinen Körper schon auf solche Spannungen "heben", dass Du eine Leuchtstoffröhre durch den Strom, der über Deine Hautoberfläche zur Röhre fließt, zum Leuchten bringen. Der geringste Strom fließt dabei tatsächlich durch die Leuchtstoffröhre. Das meiste wird direkt von Deinem Körper über parasitäre Kapazitäten an die Umgebung abfließen. Die Stromstärke ist sicher nicht unerheblich, allein schon das, was durch die Röhre fließt nicht, und dann kommt noch all das dazu, was über "parasitäre Kapazitäten" fließt. Ein Gleichstrom dieser Stärke würde Dich bestimmt töten. Ein (hochfrequenter) Wechselstrom tut dies nicht. Er bewegt einfach nicht genügend Ionen durch die Membranen Deiner Nervenzellen, bevor sich die Stromrichtung umkehrt.


NoHumanBeing  22.06.2015, 20:47

Achja, die 400 Hz an Bord von Flugzeugen kommen natürlich nicht nur durch die Sicherheitsargumentation zustande, sondern insbesondere auch dadurch, dass die Transformatoren mit steigender Frequenz leichter werden, was für ein Flugzeug natürlich nicht unwichtig ist.

Aber die geringere Berührgefährlichkeit ist sicher ein "netter Nebenaspekt" dieser Sache.

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RufusW  13.11.2018, 18:34

das war mal ein informativer Beitrag. Vielen Dank!

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Durch die Frequenz bei Wechselstrom (Der Spannung beim Wechselstrom ändert sich in einem bestimmten Rhytmus immer von Plus nach Minus. Diese Geschwindigkeit nennt man Frequenz) wird der Herzrhythmus durcheinander gebracht und kann so zu Fehlfunktionen vom Herz führen.

Körperliche Berührung und Durchströmung ist eine Sache. Bei der Arbeitssicherheit sieht das anders aus. Ein durch Kurzschluss verursachter Lichtbogen löscht nicht so schnell und dadurch können erhebliche Schäden verursacht werden. Die Gefahren des Gleichstroms sollte man nicht unterschätzen.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – ca. 40 Jahre Arbeit als Leiter eines Applikationslabors

Wechselstrom mit 50 Hz ist gefährlicher für das Herz wegen der Beeinträchtigung von dessen Schlagfrequenz (Herzflimmern). Gleichstrom dagegen ist gefährlicher im Hinblick auf Verbrennungen durch Lichtbogen.

Übrigens: In der Industriegeschichte der USA wurde auf diesem Hintergrund ein erbitterter Kampf geführt um die Einführung der Stromart für öffentliche Versorgungsnetze. Der Streit wurde angeführt von den Erfindern und Industriellen Edison und Tesla und brachte Bankenkonsortien ins Wanken. Den Streit gewann schließlich Tesla.

Wenn Du gleiche Spannungen wie zum Beispiel die Netzwechselspannung meinst, dann liegt das daran, das es beim durchströmen des Herzmuskels zum Herzkammerflimmern kommen kann. Zum Beispiel wenn man mit der Linken Hand an einen Spannungsführenden Gegenstand anfässt, der Strom über das Herz zu den Füssen und von dort ins Erdreich fliesst.

Wenn der Strom lange genug andauert fängt das Herz an zu flimmern und pumpt kein Blut mehr durch den Körper. Damit fehlt die Sauerstoffversorgung und der Mensch kann sterben. Übersteigt der Strom einen gewissen Grenzwert kann auch nicht mehr losgelassen werden, weil es zu einer schnellen Verkrampfung kommt.

Bei Gleichstrom kommt es zu einer Erwärmung und Zersetzung im Körper. Es kann aber meist noch losgelassen werden weil nicht so schnell eine Verkrampfung eintritt.



NoHumanBeing  25.06.2015, 15:55

Es kann aber meist noch losgelassen werden weil nicht so schnell eine Verkrampfung eintritt.

Das stimmt so nicht. Eine Gleichspannung kann eher "noch schlechter" losgelassen werden, weil die Muskulatur durch sie dauerhaft angespannt bleibt.

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Buebchenwh  25.06.2015, 18:15
@NoHumanBeing

Hallo! Ich bin da nach meiner Erfahrung gegangen. Wärend meiner Armeezeit habe ich Verstärkeranlagen mit Röhren (SRS552) repariert. Diese wurden mit einer Anodenspannung von 1000V betrieben. Wenn ich da angefasst habe waren Brandlöcher an den Fingern zu sehen und ich habe schnellstmöglich wieder losgelassen. Das ging meiner Erinnerung nach problemlos. Ein Kollege der in einem Schaltschrank zwischen Phase und Null, also an 220 V hing musste von mir abgepflückt werden. Selber war er nicht in der Lage loszulassen. Er hatte aber auch noch kein Herzkammerflimmern da ich zufälligerweise rechtzeitig da war.

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NoHumanBeing  02.07.2015, 22:04
@Buebchenwh

Dann hast Du entweder Glück gehabt oder die Anodenspannung war irgendwie strombegrenzt und ist bei Berührung zusammengebrochen.

Freut mich für Dich, dass da so "glimpflich" ausgegangen ist.

Ich habe mal 700 V eff. @ 112 kHz berührt. Das "hat nur ein bisschen gezwickt" (auf die hohe Frequenz spricht Dein Nervensystem kaum noch an), aber man sollte schnell zurückziehen, weil es sonst zu starker Erwärmung des Gewebes führt, insbesondere in dem Bereich, wo man die spannungsführenden Leiter berührt.

Bei dieser hohen Frequenz ist diese Spannung also relativ "harmlos". "Herausfordern" würde ich es trotzdem nicht wollen. Eine Gleichspannung dieser Größenordnung würde ich definitiv um jeden Preis meiden!

Für mich war Gleichspannung bisher immer "der Grenzfall mit einer Frequenz von f = 0" und da Wechselspannung mit zunehmender Frequenz ungefährlicher wird, hielt ich Gleichspannung immer für sehr gefährlich. Das Problem bei einem Gleichstrom ist auch, dass er die Ionen in Deinem Körper immer in die selbe Richtung schiebt und Nervenzellen "feuern", wenn ihre Zellmembranen von einer gewissen Anzahl von Ionen durchdrungen wurden.

Ein Wechselstrom schiebt sie "hin und her", aber "im Mittel passiert nichts". Das Neuron wird nur feuern, wenn eine Halbwelle es schafft, genug Ionen zu bewegen, denn danach kommt die nächste Halbwelle und "gleicht wieder alles aus. Bei Gleichstrom wird es irgendwann feuern.

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Wolfi28  02.11.2023, 01:21
@NoHumanBeing

Nein, das stimmt definitiv nicht, auch wenn sich dieses Gerücht sehr hartnäckig hält. Dauerhaft krampfen tut nur niederfrequenter Wechselstrom, bei Gleichstrom kommt es nur beim Ein- und Ausschalten zu kurzzeitigen Muskelverkrampfungen.

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