Euer Lieblingsgedicht von Rainer Maria Rilke?

4 Antworten

Der Knabe
Ich möchte einer werden so wie die,
die durch die Nacht mit wilden Pferden fahren,
mit Fackeln, die gleich aufgegangnen Haaren
in ihres Jagens großem Winde wehn.
Vorn möcht ich stehen wie in einem Kahne,
groß und wie eine Fahne aufgerollt.
Dunkel, aber mit einem Helm von Gold,
der unruhig glänzt. Und hinter mir gereiht
zehn Männer aus derselben Dunkelheit
mit Helmen, die, wie meiner, unstät sind,
bald klar wie Glas, bald dunkel, alt und blind.
Und einer steht bei mir und bläst uns Raum
mit der Trompete, welche blitzt und schreit,
und bläst uns eine schwarze Einsamkeit,
durch die wir rasen wie ein rascher Traum:
Die Häuser fallen hinter uns ins Knie,
die Gassen biegen sich uns schief entgegen,
die Plätze weichen aus: wir fassen sie,
und unsre Rosse rauschen wie ein Regen.

Die letzten 8 Zeilen lesen sich wie ein Filmdrehbuch. Aber es ist ziemlich schwer, ein Lieblingsgedicht von Rilke zu nennen, wenn man ca. 5 Dutzend von ihm besondes liebt und ein halbes Dutzend auswendig gelernt hat.


So laß uns Abschied nehmen wie zwei Sterne,

durch jedes Übermaß von Nacht getrennt,

das eine Nähe ist, die sich an Ferne erprobt

und an dem Fernsten sich erkennt.


Rainer Maria Rilke
(1875 - 1926), René Karl Wilhelm Johann Josef Maria, österreichischer Erzähler und Lyriker

Abschied nehmen ist schon immer ein großes Thema für mich gewesen. Rainer Maria Rilke beschreibt sehr schön, wie man in Würde und Liebe voneinander Abschied nimmt. Denn obgleich man Abschied nimmt, ist ein Wiedersehen nicht ausgeschlossen.

Freundlichen Gruß

Albatros

Der Panther

Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer Maria Rilke, 6.11.1902, Paris

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.


Gronkor  23.04.2017, 09:05

Und warum?

Ich sehe die größte Leistung beim Gedichteschreiben darin, wenn jemand es schafft, etwas Unsagbares trotzdem zu sagen.

Darin liegt finde ich der eigentliche Sinn der Poesie.