Reichsgründung 1871 Pro und Contra?

4 Antworten

Ich habe wirklich überall nach einer Pro- und Contraliste gesucht bzgl. der Reichsgründung, leider nichts gefunden...

Das verwundert mich nicht. Denn im Grunde kann man eine solche Liste nicht erstellen, weil sie keinen historischen Wert hat. Denn nach welchen Kriterien und Vorstellungen soll man das Reich bewerten? Nach zeitgenössischen oder nach heutigen? Selbst die Zeitgenossen wären sich nicht vollkommen einig gewesen: die Deutschen in der Mehrheit wären "Pro" gewesen, die Franzosen, im Krieg besiegt, wären "Contra" gewesen. Insgesamt war die europäische Stimmung damals eher "Pro"! Nach heutigen, in der Schule vermittelten Anschauungen würde die Reichsgründung mehrheitlich als "Contra", nur von einer Minderheit als "Pro" bewertet, weil gerade die Schule und die Schüler nach modernen Anschauungen werten und - ganz wesentlich - das Reich nach der Geschichte, die es genommen hat, beurteilen. Weil es aber in der Geschichte kaum Zwangsläufigkeiten gibt und die historische Entwicklung grundsätzlich ergebnisoffen ist, wäre es ungerecht, vom Ende her ein negatives Urteil über die Reichsbildung zu fällen!

Die deutsche Einigung in föderaler Vielfalt - nichts anderes war die sog. Reichsgründung - nahm eine alte Tradition auf: die des Heiligen Römischen Reiches und der lockeren Weiterführung als Deutscher Bund, außerdem die Erfahrungen mit dem napoleonischen Frankreich. Insbesondere in bürgerlichen, gebildeten Kreisen war die Idee eines starken deutschen Staates, eines Nationalstaates, in dem die deutschen Länder ihre wirtschaftlichen, politischen und auch militärischen Kräfte bündeln sollten, populär und nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Eine erste Reichsbildung scheiterte 1848/49. Dann übernahm Preußen mehr oder weniger zielgerichtet diese Aufgabe.

Wenn man ein "Pro" sehen will, dann die Tatsache, dass es Preußen gelang, einen wirtschaftlich und militärisch starken, politisch stabilen Staat, der dennoch dem Föderalismus Rechnung trug, aufzubauen, der sogar demokratische Elemente hatte, nämlich einen demokratisch (von Männern) gewählten Reichstag. Das Deutsche Reich war ein Rechts- und Verfassungsstaat, der allen Reichsangehörigen eine materielle Existenz ermöglichte, mit geringerer Verelendung breiter Volksschichten als in anderen damaligen Ländern.

Unter "Contra" könnte man ggf. verbuchen und wurde auch von etlichen Zeitgenossen beklagt, dass die deutsche Einigung nicht vollkommen geglückt ist, denn Österreich blieb ausgeschlossen. Allerdings wurde das in den folgenden Jahren dadurch etwas wettgemacht, dass das Deutsche Reich und das Habsburgerreich enge Verbündeten wurden. Auch die zu starke Ausrichtung der Reichsverfassung auf die Person des Reichskanzlers Bismarck und die zu große Macht des Kaisers war, wie sich allerdings erst später herausstellte, eine Belastung für die weitere Reichsgeschichte. Aber auch diesen Punkt darf man nicht zu hoch gewichten, weil die Reichsgründung eine Entwicklung zu einer parlamentarischen Monarchie nicht von vorneherein ausschloss!

Für Interessierte empfehle ich diese interessant geschriebene, zuverlässige Gesamtdarstellung des Kaiserreichs als Einstiegsliteratur:

MfG

Arnold

Woher ich das weiß:Berufserfahrung

Die Frage bei "Pro und Contra" ist immer, für wen. Für die kaiserliche Regierung unter Bismarck war die Reichsgründung natürlich klasse, immerhin haben sie das getan, da musste was dran sein. Es ist eine Offensichtlichkeit, dass ein Königs- und danach Kaisertum seine territoriale Herrschaft und Macht ausbauen will. Allerdings geschieht das auf Kosten der anderen, auf Kosten der Kleinstaaterei, die immerhin in Deutschland eine lange Tradition hat, und für Kultur, Frieden und schließlich Wohlstand sorgte. Obwohl die Kleinstaaterei bereits durch die Gründung des Deutschen und daraufhin Norddeutschem Bundes ihren Ausklang erlebte, setzte das Übel der Reichsgründung noch den letzten Druck oben herauf. Für die Macht brillant, für den Frieden, Wohlstand, Kultur und die Bürger war der Nationalstaat ein Fehler. Wie auch schon Johann Goethe schrieb:

Mir ist nicht bange, daß Deutschland nicht eins werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das ihrige tun. Vor allen aber sei es eins in Liebe untereinander, und immer sei es eins gegen den auswärtigen Feind. Es sei eins, daß der deutsche Taler und Groschen im ganzen Reich gleichen Wert habe; eins, daß mein Reisekoffer durch alle sechsunddreißig Staaten ungeöffnet passieren könne. [...] Deutschland sei ferner eins in Maß und Gewicht, in Handel und Wandel und hundert ähnlichen Dingen, die ich nicht alle nennen kann und mag.
Wenn man aber denkt, die Einheit Deutschlands bestehe darin, daß das sehr große Reich eine einzige große Residenz habe, und daß diese eine große Residenz, wie zum Wohl der Entwickelung einzelner großer Talente, so auch zum Wohl der großen Masse des Volkes gereiche, so ist man im Irrtum. [...]
Wodurch ist Deutschland groß als durch eine bewundernswürdige Volkskultur, die alle Teile des Reichs [...] durchdrungen hat. Sind es aber nicht die einzelnen Fürstensitze, von denen sie ausgeht und welche ihre Träger und Pfleger sind? – Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Kultur stände, ja auch um einen überall verbreiteten Wohlstand, der mit der Kultur Hand in Hand geht! [...]
Nun denken Sie aber an Städte wie Dresden, München, Stuttgart, Kassel, Braunschweig, Hannover und ähnliche; denken Sie an die großen Lebenselemente, die diese Städte in sich selber tragen; denken Sie an die Wirkungen, die von ihnen auf die benachbarten Provinzen ausgehen, und fragen Sie sich, ob das alles sein würde, wenn sie nicht seit langen Zeiten die Sitze von Fürsten gewesen?
Frankfurt, Bremen, Hamburg, Lübeck sind groß und glänzend, ihre Wirkungen auf den Wohlstand von Deutschland gar nicht zu berechnen. Würden sie aber wohl bleiben, was sie sind, wenn sie ihre eigene Souveränität verlieren und irgendeinem großen deutschen Reich als Provinzialstädte einverleibt werden sollten? – Ich habe Ursache, daran zu zweifeln.

Und so kam es, aus dem Ländereien der Dichter und Denker wurde eine Nation der Richter und Henker (Weltkriege nur als ein Beispiel).

Die Frage ist ja eher: Wurde da wirklich ein Reich gegründet? Außer einer Proklamation, die ja mangels Einigung (Kaiser von Deutschland oder Deutscher Kaiser) diplomatisch auf "Kaiser Wilhlem" ausgebracht wurde, war da eigentlich nichts geregelt.

Und dann war da noch der Ort der Proklamation ...

Pro: diese Kleinstaaterei hatte ein Ende. Das sorgte für mehr Handel und ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein.

Kontra: es geschah in einem militärisch-monarchischen System, bei dem der Ärger mit den Nachbarstaaten vorprogrammiert war.