Staatstheorien auf heutige BRD übertragbar?

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Staatstheorien können grundsätzlich auf Staaten untersuchend und vergleichend (mit der Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden unter bestimmten Gesichtspunkt übertragen werden.

Auch wenn die politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Verhältnisse sich seit der Lebenszeit von Montesquieu (Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu) und Jean-Jacques Rousseau sich stark verändert haben, ist ein Teil ihrer Staatstheorien auf die Bundesrepublik Deutschland für die praktische Anwendung übertragbar.

Montesquieu

Von Montesquieu, De l’esprit des loix (1748; Vom Geist der Gesetze) ist außer der Bindung an das Gesetz der Grundgedanke der Gewaltenteilung übertragbar. Er hat folgenden Gedanken: Die Freiheit ist am meisten durch Missbrauch von Macht gefährdet und ein Missbrauch von Macht kann in jeder Staatsform geschehen. Gewaltenteilung begrenzt Macht und ist daher nützlich, um Freiheit zu sichern.

Wenn die Staatsgewalten in einer Hand vereint ausgeübt werden, droht nach seiner Auffassung Freiheitsverlust. Eine Person oder eine Körperschaft könnte willkürlich und tyrannisch Gesetze aufstellen, Gesetze vollziehen und richterliche Urteile fällen und so die anderen unterdrücken. Es herrscht dann ein furchtbarer Despotismus.

In Montesquieus Staatstheorie gibt es die drei Gewalten Legislative (gesetzgebende Gewalt), Exekutive (ausführende/vollziehende Gewalt) und Judikative (richterliche/rechtsprechende Gewalt). Die Staatsgewalten sind nebeneinander geordnet. Wichtig ist eine Verteilung zur Verhinderung von Machtanhäufung.

Eine Gewaltenteilung mit Legislative, Exekutive und Judikative enthält die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, das Grundgesetz. Sehr wichtig ist dazu Artikel 20 Absatz 2: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

In der heutigen Praxis ist die Gewaltenteilung in erheblichem Ausmaß eine Gewaltenverschränkung, das heißt eine Einflussnahme und Überschneidung bzw. Verflechtung zwischen den drei Gewalten, die als Institutionen getrennt sind. Eine Gewalt kann Funktionen der anderen übernehmen (z. B. das Parlament die Regierung ermächtigen, Rechtverordnungen zu erlassen, ein Verfassungsgericht Gesetze als verfassungswidrig aufheben) oder organisatorisch an der Bildung der Organe einer andern Gewalt mitwirken (Wahl des Regierungschefs durch das Parlament, Ernennung von Richtern durch Justizministerien).

In Montesquieus Staatstheorie gibt es dagegen eine getrennte Souveränität der Träger der Gewalten. Träger der Staatsgewalten sind Adel, Volk und (wenn der Staat keine Republik, sondern eine Monarchie ist) Monarch (Monarchie als durch Verfassung/Gesetze begrenzt – also eine konstitutionelle Monarchie - unterscheidet Montesquieu von Despotismus, bei dem die willkürliche Laune eines Einzigen alles entscheidet).

Die Haupttypen bei den Staatsformen/Regierungsformen (régimes/gouvernements) sind in Montesquieus Staatstheorie :

  • Republik (république)
  • Monarchie (monarchie)
  • Despotismus (despotisme)

Bei der Republik gibt es als Unterformen die Demokratie/demokratische Republik und die Aristokratie/aristokratische Republik. Bei der Demokratie liegt die souveräne Macht beim Volk, bei der Aristokratie bei einem Teil des Volkes. Die Monarchie ist im Grunde eine gemischte Verfassung, weil es mit dem Adel Zwischengewalten zwischen Herrscher und Volk gibt, die eine unabhängige Machtgrundlage haben.

Es gibt eine grundlegende Unterscheidung zwischen gemäßigten (moderaten) und despotischen Staats-/Regierungsformen. In gemäßigten Regierungssystemen (Republik und Monarchie lassen sich unter diesem Begriff zusammenfassen) ist die Herrschaft an Gesetze gebunden und die Macht regierender Personen durch eine Verfassung beschränkt, in despotischen gibt es keine solche Begrenzung von Willkür und Laune.

Rousseau

Rousseau, Du contrat social ou principes du droit politique (zuerst 1762 erschienen; „Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes“) ist die zum Thema wichtige Textgrundlage.

Von Rousseaus Staastheorie ist außer der Bindung an das Gesetz vor allem der Grundgedanke der Volkssouveränität übertragbar. Legitime (rechtmäßige/gerechtfertigte) Staatsgewalt geht vom Volk aus. Seine Auffassung von Demokratie ist nur zu einem kleineren Teil zur praktischen Anwendung übertragbar, weil Rousseau eine indirekte/repräsentative Demokratie, wie sie das politische System Bundesrepublik Deutschland ist, ablehnt. Eingeschränkt übertragbar ist der Ansatz einer Volksgesetzgebung durch Bestandteile direkter Demokratie. Auf Bundesebene der Bundesrepublik Deutschland gibt es nur als theoretische Möglichkeit Artikel 146 des Grundgesetzes, demzufolge das Grundgesetz seine Gültigkeit an dem Tag verliert, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Auf kommunaler Ebene und Ebenen der Bundesländer gibt es die Möglichkeit von Bürgerbegehren und Bürgerentschied bzw. Volksbegehren und Volksentscheid.

Jean-Jacques Rousseau ist für den volonté générale, den allgemeiner Willen (des Volkes) eingetreten, der etwas anderes als der Wille aller ist. Er ist auf das Allgemeinwohl ausgerichtet.

Rousseau vertritt auf der Grundlage eines freiwilligen und allgemein zustimmungsfähigen Gesellschaftsvertrages das (demokratische) Prinzip der Volkssouveränität (souveraineté populaire) und eine Ausrichtung am allgemeinen Willen (volonté générale), dessen Ausdruck die Gesetze sein sollen.

In Rousseaus Staatsentwurf liegt die Legislative beim Volk, die Exekutive bei der Regierung. Aber auch die Exekutive ist als Umsetzung des Willens des Volkes gedacht.

Weil die Souveränität Ausdruck des allgemeinen Willens (volonté générale), ist, kann sie nach seiner Auffassung nicht übertragen, weitergegeben oder veräußert werden. Auf die Regierung lassen sich Handlungsbefugnis und Macht übertragen, aber nicht der allgemeine Wille (Buch 2, Kapitel 1). Aus diesem Grund, den allgemeinen Willen nicht teilen und veräußern zu können, ergibt sich bei Rousseau auch die Unteilbarkeit der Souveränität (Buch 2, Kapitel 2). Daher gibt es in seinem Staatsentwurf keine Gewaltenteilung in Form einer Verteilung, bei dem die Macht auf mehrere Machtträger verteilt ist. Denn dies würde bedeuten, den allgemeinen Willen zu zerstückeln.

Rousseau unterscheidet Gewalten nach ihren Funktionen, vertritt aber keine Gewaltenteilung als Verteilung der Macht auf verschiedene Machtträger.

Die Staatsgewalten sind der Souveränität (also letzlich dem allgemeinen Willen) unterstellt und werden durch Gesetze begründet und kontrolliert.

Bei der Bestimmung, wer Regierungsämter ausübt, entspricht nach Rousseaus Auffassung, eine Entscheidung durch Los mehr einer wahren Demokratie als Wahlen (vgl. vor allem Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou principes du droit politique [Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes] Buch 4, Kapitel 3). In diesem Bereich ist sein Ansatz für heutige Zustände als Vorbild weniger geeignet.

Auch demokratisch gewählte Abgeordnete in einem Parlament sind nach seiner Auffassung nur Repräsentanten. Seiner Meinung nach ist es dagegen richtig, wenn allgemeiner Willen und die Souveränität beim Volk bleiben. Die Gesetzgebung liegt beim Volk als Gesamtheit. Sie wird in direkter Demokratie über Abstimmungen ausgeübt. Praktizierbar war sie seiner Meinung in verhältnismäßig kleinen Staaten. Größere Einheiten können durch Zusammenarbeit von Kleinstaaten in einer Föderation (einem Bund) erreicht werden.