Ist es moralisch vertretbar, einen Menschen in Notwehr zu töten?

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Hallo Orgrim,

du argumentierst:

Aber in der Bibel steht ganz klar, dass man nicht töten darf und zwar ohne jegliche Ausnahmen.

Stimmt diese Aussage? Dazu einige nachdenkenswerte Texte:

Schon von Anfang an (Kain und Abel) gab Gott zu erkennen, dass er Mord und Totschlag nicht tolerieren würde. Nach der Flut in den Tagen Noahs, gab Gott die Anweisung:

1Mo9,5 (HFA) Niemand darf einen anderen Menschen ermorden! Wer dies tut - ob Mensch oder  Tier -, muss mit dem Tod dafür büßen. Ich selbst werde ihn zur Rechenschaft ziehen. 6 Wer einen Menschen tötet, darf selbst nicht am Leben bleiben; er soll hingerichtet werden.


Den Israeliten gebot Gott:

2Mo 20,13 (HFA) Du sollst nicht töten

Jedoch einige Verse weiter eine von vielen Ausnahmen:

2Mo 21,12 (HFA) Wer einen Menschen vorsätzlich so schwer verletzt, dass er stirbt, muss mit dem Tod bestraft werden. 13 Hat er ihn aber nicht mit Absicht getötet, sondern es geschah durch einen Zufall, den ich, der Herr, geschehen ließ, dann soll er an einen Ort fliehen, den ich bestimmen werde. 14 Doch wer einen Menschen vorsätzlich und heimtückisch umbringt, muss 1sterben. Selbst wenn er an meinem Altar Schutz sucht, sollt ihr ihn von dort wegholen und töten.

Man sollte heute auch Rö 13 berücksichtigen:

R13,4 (HFA) . 4 Denn die staatliche Macht steht im Dienst Gottes, um dich zum Tun des Guten anzuspornen. Wenn du aber Böses tust, musst du dich vor ihr fürchten. Ihre Vertreter tragen nicht umsonst das Schwert. Sie stehen im Dienst Gottes und vollstrecken sein Urteil an denen, die Böses tun.


Einige behaupten, Jesus lehre in Matthäus 5:39 und Lukas 6:29 völlige Gewaltlosigkeit

Mt 5,39 (ELB) Ich aber sage euch: Widersteht nicht dem Bösen, sondern wenn jemand dich auf deine rechte Backe schlagen wird, dem biete auch die andere dar;

Lk 6:28 (ELB). betet für die, die euch beleidigen! 29 Dem, der dich auf die Backe schlägt, biete auch die andere dar;



Ein Schlag mit der flachen Hand auf die Wange stellt auch heute - so wie damals - viel eher eine Beleidigung oder Kränkung dar, als einen tätlichen Angriff auf Leben und Gesundheit.

Gemäß Jesu Worten sollten wir auf solch eine Herausforderung nicht reagieren wie der stolze Lamech, ein Nachkomme Kains, der überheblich prahlte laut 1. Mose 4:23:

"Einen Mann habe ich getötet, weil er mich verwundete, ja,einen Jüngling weil er mir einen Hieb versetzte."

Das entspricht auch dem Rat des Apostels Paulus aus Römer 12:17-21:

"Vergeltet niemandem Böses mit Bösem...Wenn möglich haltet, soweit es von euch abhängt, mit allen Menschen Frieden....Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse stets mit dem Guten."

Es gilt dabei zu beachten, dass Jesus und Paulus hier keineswegs von Christen verlangen, sie müssten eine Vergewaltigung oder einen schweren gewalttätigen Angriff auf Leben und Gesundheit tatenlos geschehen lassen.


Was aber tun, wenn ein Angreifer jemandes Leben bedroht? Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Gesetz, das Gott den Israeliten gab. Wurde ein Dieb tagsüber ertappt und erschlagen, musste sich der Täter wegen Mord verantworten. Zum einen stand ja auf Diebstahl nicht die Todesstrafe, zum anderen hätte der Dieb bei Tageslicht ohne Weiteres erkannt und seiner gerechten Strafe zugeführt werden können.

Anders bewertet wurde es, wenn ein Hausherr einen Eindringling nachts erschlug. Dann wirkte der Umstand entlastend, dass er nur schwer erkennen konnte, was der Eindringling tat und welche Absichten er verfolgte. Der Hausherr musste durchaus befürchten, dass Leib und Leben seiner Familie in Gefahr war, und durfte sich zur Wehr setzen (2. Mose 22:2, 3).

Wird jemand tätlich angegriffen, darf er somit laut der Bibel sich selbst oder seine Angehörigen verteidigen. Er darf Schläge abwehren, den Angreifer festhalten, ja ihm sogar einen Schlag versetzen, um ihn zu betäuben oder außer Gefecht zu setzen. Dies würde in der Absicht geschehen, den Angriff abzufangen oder zu stoppen. Wenn das zutrifft und der Angreifer dabei schwer verletzt oder gar getötet wird, wäre nicht von Vorsatz auszugehen, sondern von einem Unfall.


Solch eine Attacke darf mit adäquaten Mitteln abgewehrt werden, wobei es aber niemals das Ziel sein darf, den Aggressor zu töten oder unnötig schwer zu verletzen. Ähnlich sieht es auch der Notwehrparagraph im deutschen Gesetz.StGB § 32.

Grüße, kdd


Orgrim 
Fragesteller
 02.06.2016, 16:00

Wirklich gute Antwort.

Du hast an mehreren Stellen zitiert, dass ein Mörder aufgrund seiner Tat selbst das Leben verlieren soll. Aber es wurde nicht geschrieben wer dies tun soll. Auf jeden Fall kein anderer Mensch. Dies ist Gottes Aufgabe.

Selbstverständlich ist es moralisch in Ordnung sich zu verteidigen und den Angreifer versuchen auszuschalten, aber halt ohne ihn zu töten. Sollte dies jedoch aufgrund eines Unfalls passieren ist das natürlich auch ok. Aber man darf meiner Meinung nach keine direkt tödliche Maßnahme ergreifen wie z.B. Kopfschuss usw.

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kdd1945  02.06.2016, 18:42
@Orgrim

Dies ist Gottes Aufgabe

Gott delegiert. Nicht an einen Lynchmob, sondern an die Verantwortlichen in der  jeweiligen staatlichen (gesellschaftlichen) Ordnung. Und das, obwohl Fehlurteile unvermeidbar waren.

http://wol.jw.org/de/wol/d/r10/lp-x/1200003157#h=1:0-3:1066

Gott toleriert zur Zeit der Unvollkommenheit manches (sieh Mt 19,3-9)

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Ich bin Buddhist und leider selbst schon in Gewaltsituationen, in denen meine körperliche Integrität, oder die anderer Menschen durch Gewalt bedroht war.

Für mich ist es wichtig, wenn immer möglich die Situation friedlich beizulegen, deeskalierend zu wirken - und im Idealfall gar nicht erst in solch eine Situation zu geraten.

Für mich sieht eine derartige Situation so aus:

Es gibt eine friedliche Ausgangssituation und gesellschaftliche Ordnung. Dieser Frieden und diese Ordnung werden durch den Angreifenden gebrochen.

Sei es in klarer Absicht anderen zu schaden, oder im Rahmen eines Affekts, unter Drogeneinfluss, oder einer psychischen Erkrankung.

Wenn man diesen Menschen nicht mehr auf einer emotionalen Ebene erreichen kann und er Gewalt, möglicherweise sogar Tod mit sich bringt, dann sehe ich den Verteidiger in der Verantwortung.

Wenn es seine Fähigkeiten und Möglichkeiten erlauben, dann sollte er sich verpflichtet fühlen, die gestörte Ordnung und den Frieden wiederherzustellen - auch wenn er damit die Tötung des Angreifers in Kauf nimmt.

Eine Gewalttat ist meiner Meinung nach nämlich kein isoliertes Ereignis, sondern beruht auf einer fehlenden inneren Ordnung des Angreifers.

Jemand der traumatisiert, drogensüchtig, oder psychisch krank ist, wird es nicht alleine dabei belassen mich zu töten - er wird diese Gewaltspirale mit hoher Wahrscheinlichkeit weiterführen.

Nehmen wir an, man überrascht einen Einbrecher, wird attackiert, kann sich verteidigen und der Angreifer flieht.  Als Folge dieser Erfahrung wird er womöglich beim nächsten Einbruch die anwesenden Personen gleich töten, um Gegenwehr zu vermeiden.

Hätte man den Angreifer dagegen zumindest soweit wehrlos gemacht, dass sich die Polizei um ihn kümmern kann, wäre die Gewaltspirale unterbrochen worden. Im Gefängnis wäre er womöglich sozial betreut und resozialisiert worden, so dass er nie wieder solche Taten begehen wird

Es kann aber natürlich sein, dass man die Person im Rahmen der Notwehr unbeabsichtigt tötet, oder keine Alternative mehr besteht Dann ist dieser Tod sehr bedauerlich, aber die Ordnung in der Gesellschaft ist wiederhergestellt und die Gewaltspirale findet ein - wenn auch trauriges - Ende.

Deshalb ist Selbstverteidigung und Notwehr auch nicht unbedingt etwas egoistisches, bei dem nur das eigene Wohlergehen im Vordergrund steht, sondern sie kann auch der Gesellschaft als ganzes dienen, weil eine Gewaltspirale unterbrochen wird.


Orgrim 
Fragesteller
 02.06.2016, 15:40

Ob es solch eine gesellschaftliche Ordnung wirklich gibt, sei mal dahingestellt.

Ich kann deine Argumentation verstehen und ist auch wirklich sinnvoll.

In deinem beschriebenen Fall, dass der Angreifer flieht und er beabsichtigt weitere Straftaten zu begehen, würde es meiner Meinung nach ausreichen, wenn man die Leute (Gesellschaft) vor diesem Individuum warnt und der Polizei behilflich ist diesen Täter zu überführen. Das Töten dieser Person ist meiner Meinung nach nicht zwingend erforderlich.

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Enzylexikon  02.06.2016, 15:49
@Orgrim

würde es meiner Meinung nach ausreichen[...]

Völlig richtig, meine Meinung. :-)

Das Töten dieser Person ist meiner Meinung nach nicht zwingend erforderlich.

Ebenfalls meine Meinung. :-)

Deshalb habe ich ja selbst geschrieben:

Es kann aber natürlich sein, dass man die Person im Rahmen der Notwehr unbeabsichtigt tötet, oder keine Alternative mehr besteht.

Ich sehe nämlich auch keinen Grund, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, oder das größere von zwei Übeln zu wählen, wenn es sich vermeiden lässt.

Da sind wir uns offenbar in wesentlichen Dingen einig. :-)

sei mal dahingestellt.

Ob die "zu schützende gesellschaftliche Ordnung" tatsächlich immer so toll und harmonisch ist, kann man in der Tat bezweifeln.

Allerdings finde ich eine Gesellschaft ohne Gewalttäter definitiv harmonischer, als mit solchen. ;-)

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Orgrim 
Fragesteller
 02.06.2016, 16:06
@Enzylexikon

Wen der Angreifer unbeabsichtigt stirbt, ist das natürlich ein ganz anderer Fall. Dies ist dann ein Unfall, der ok ist.

Klar ist eine Gesellschaft ohne Gewalttäter harmonischer und wünschenswert. Aus diesem Grund sollte man auch versuchen solche Gewalttäter zu überführen. :-)

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Wilkinson  05.06.2016, 20:02

Faszinierend. Du bist Buddhist und führst in Deinem Profilbild die Flagge Israels in Herzform... Faszinierend...

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Enzylexikon  05.06.2016, 20:28
@Wilkinson

Es gibt nun einmal nicht nur in Asien Buddhisten und nicht jeder macht  seinen Urlaub "uff Malle" ;-)

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Hey,

also ich bin da wohl etwas anderer Meinung als du. Ich finde, wenn sein eigenes Leben in Gefahr ist darf man jemanden in Notwehr töten. Denn in deiner Argumentation gibt es, für mich, ein kleines Problem. Du sagst dein Leben wäre nicht mehr wert als ein das eines anderen Menschen. Aber jemanden in Notwehr zu töten bedeutet, dass er dich vorher angegriffen hat und dich ernsthaft verletzen -wenn nicht sogar töten- wollte. Also wäre dein Leben mit deinen moralischen Vorstellung irgendwie schon mehr wert.

Außerdem ist es doch so, dass, wenn man sich nicht wehrt OBWOHL man es könnte und es etwas bringen würde, man doch eigentlich so etwas wie Selbstmord begehen würde, da man sein eigenes Leben nicht verteidigt (es kann sein, dass ich das falsch sehe). Also würde man so oder so einen Menschen umbringen.

Hast du vielleicht mal von Bonhoeffer gehört? Ihn hat das auch damals beschäftigt, aber in einer etwas abgewandelten Form: Soll man einen Menschen töten wenn man dann viele Menschen retten kann, die man dann zwar nicht selbst getötet hätte, aber für deren Tod man mitverantwortlich wäre? Auch dieses Szenario ist in der Bibel nicht geklärt. Aber ich denke ich weiß, was ich machen würde.

Ich finde deine Meinung trotzdem verständlich, obwohl ich sie nicht komplett teile.

Liebe Grüße


Orgrim 
Fragesteller
 02.06.2016, 01:02

Klar wäre mein Leben schon irgendwie mehr Wert, als das des Angreifers, aber es liegt nicht an mir darüber zu entscheiden. Denn auch der Angreifer wird seine Gründe für seine Taten haben. Niemand wird böse geboren.

Nur weil er eine falsche Entscheidung trifft und entscheidet, dass sein Leben mehr Wert ist, als das meinige, muss ich diese Entscheidung aber nicht auch so treffen. Denn dann wäre ich genau so wie er.

Selbstmord wäre das auf keinen Fall. Du hast die Situation ja schließlich nicht herbeigeführt.

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Christen sollen ja vor Allem die andere Wange hin halten. Es würde mich nicht wundern, wenn das nur wenige im Angesicht des Todes auch tun würden.

Ich finde dass man jedes recht hat jemanden mit allen verfügbaren Mitteln daran zu hindern einen selbst oder jemand Anderen zu töten. Wenn das für den Angreifer den Tod bedeutet, ist er selbst schuld.


quopiam  02.06.2016, 13:38

Christen können (nicht: müssen!) für sich selbst entscheiden, das Martyrium zu wählen, so wie Du das Gleichnis mit der "anderen Wange" deutest. Sie können es aber nicht für andere entscheiden. Deshalb: Notwehr kann auch bedeuten, daß Du töten mußt, um jemanden zu retten - einen oder viele. Das wurde beim Thema "Tyrannenmord" in der Geschichte schon häufig diskutiert. Gruß, q.

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Vollkommen. Du hast mehr Recht zu leben, als der andere Recht hat dich zu töten. Und wenn er nicht aufhört, zu versuchen dich zu töten, bis er selber tot ist, dann hat er sich das nur selbst zuzuschreiben.

Die Bibel spricht von Morden. Oder an sich, andere Juden zu morden. Wer das alte Testament liest sieht sehr schnell das Gott absolut nichts gegen Töten im allgemeinen hatte.