Effi Briest - Ein gesellschaftskritischer Roman? Kennt sich jemand wirklich aus?

4 Antworten

Ich glaube, dass Fontanes gesellschaftskritisches Potential denkbar gering ist. Er hat kaum Ambitionen in diese Richtung. Die damalige Berliner (und Brandenburger) Gesellschaft ist für ihn ein offenes Buch, er kennt sie, versteht sie, kann jedes Verhalten der Akteure aus ihrer Herkunft und den Zeitumständen erklären. Das tut er, ausführlich beschreibend, unbestechlich und mit scharfem Blick, aber ganz ohne Eifer oder Pathos...dafür oft mit einem feinen ironischen Unterton. (In diesem Punkt wird er ja auch als Vorläufer von Thomas Mann bezeichnet.) Er kritisiert weniger, als dass er beschreibt - und das meisterhaft.

Es wird beschrieben, wie und warum Effi in ihr Schicksal gewissermaßen hineinrutscht, wie sie sich verändert, aber dennoch nicht genug Kraft hat, ihr Leben so zu gestalten, dass sie darin glücklich werden kann. Genau wie Instetten, der am Ende erkennt, "dass es ein Glück gebe, das er gehabt, aber dass er es nicht mehr habe und nicht mehr haben könne". Daraus hätte man eine echte Tragik entwickeln können, aber das ist nicht Fontanes Sache. Er beschreibt und erklärt.

Ich finde gerade das beim Lesen außerordentlich beunruhigend, weil man als Leser viel erfährt, aber die Wandlung, die man erwartet, sich nicht einstellt. Jedenfalls nicht vollständig. Ich denke, gerade deshalb hat der Roman so eine starke Wirkung. Während explizite Gesellschaftskritik eigentlich nichts anderes tun könnte als beim Leser offene Türen einzurennen, und das wäre sicher viel weniger eindrucksvoll.


earnest  17.12.2013, 14:26

DH!

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Iwonderhow13 
Fragesteller
 18.12.2013, 18:56

Hallo :) Danke erstmal für die ausführliche Antwort! Also aus dieser Perspektive habe ich das ganze vorher gar nicht betrachtet. Ich habe mich immer gefragt, was denn der Sinn und Zeck des Buches sei, wenn es nicht gesellschaftskritisch ist, aber das Theodor Fontane vielleicht eher die Rolle des Beobachters einnimmt, auf diese Idee bin ich irgendwie nicht gekommen. Warum hat er dann allerdings Effi als so reizend und sympatisch dargestellt? Der Tragik wegen? Gerade damit die Leser sich mit ihr identifizieren? Naja, was genau er sich dabei gedacht hat lässt sich warscheinlich nur spekulieren ;-) lg

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Vielleicht hilft dir das hier ein wenig weiter:

http://www.thgaier.de/font_ges.pdf


Iwonderhow13 
Fragesteller
 18.12.2013, 18:49

Hallo :) Vielen Dank, das hat mir auf jeden Fall weiter geholfen!

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Ich schätze mal, dass er die grundsätzliche Moral in der damaligen Gesellschaft nicht so sehr kritisieren wollte, sondern eher ihre rigide Durchsetzung gegenüber Effie.

Außerdem nimmt Fontane als Vertreter des literarischen Realismus' eher die Rolle des Beobachters ein als die des Richters.


Iwonderhow13 
Fragesteller
 18.12.2013, 18:58

Was genau meinst du mit rigide Durchsetzung? Ich versteh das nicht ganz. Warum die Rolle des Richters? Weil er über das Reale geurteilt hat? Das kann aber irgendwie nicht sein, weil er sich als Erzähler nicht zur Schuldfrage äußert.

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Man muss zuerst den Begriff „Gesellschaftskritik“ klären. Meistens versteht man darunter die Kritik an einer bestimmten Gesellschaftsform, z.B. an der kapitalistischen Gesellschaft, wie sie etwa in den Brechtschen Dramen oder auch bei Heinrich Böll in „Ansichten eines Clowns“ geübt wird. Die sog. kapitalistische Gesellschaft ist aus vielerlei Gründen (empörend) unmenschlich, und diese Gründe werden in den genannten Werken abgehandelt. Diese Art „Gesellschaftskritik“ gibt es bei Fontane nicht. Zwar lässt er seine Figuren das „uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas“ (Instetten, 27. Kap.) anprangern oder er legt Wüllersdorf den kritischen Satz in den Mund, der Ehrenkultus der Gesellschaft sei „ein Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt“(27. Kap.). Gemeint ist hier aber die Macht der Gesellschaft allgemein, die von Fontane dargestellt (und von seinen Figuren angeprangert) wird, nicht die Macht einer konkreten Gesellschaftsform. Denn „Gesellschaft“ ist immer. Es gibt keine Zeit, in der nicht die Gemeinschaft aller in einem Staat Lebenden sich bestimmte Regeln schafft, denen sie sich unterwirft. Diese Regeln werden von vielen als Einschränkung oder Belastung empfunden, so auch von Instetten und Wüllersdorf der „Ehrenkultus“ in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Dass Wüllersdorf ihn als „Götzen“ bezeichnet, macht seine Abneigung gegen diese Gepflogenheiten deutlich. Damit wird aber keine Kritik an der Adelsgesellschaft geübt, sondern es soll das Gesetz des Lebens dargestellt werden. Dazu gehört, dass der einzelne Mensch einem Ganzen angehört „und auf das Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von ihm...“ (s. Kap 27). Deutlich wird das auch in dem Satz: „Im Zusammenleben mit den Menschen hat sich ein Etwas ausgebildet, das nun mal da ist... und dagegen zu verstoßen geht nicht“. Es geht also um das Zusammenleben der Menschen allgemein. So ist es, will Instetten sagen, so war es immer! Keiner lebt isoliert auf der Welt oder, wie Instetten es ausdrückt: „in Einsamkeit“. Jeder steht zu allen Zeiten unter dem „uns tyrannisierenden Gesellschafts-Etwas“ und ist von ihm abhängig. Das führt oft dazu, dass viele mit „aufgepackter Last“ leben müssen und das „rechte Glück“ nicht bekommen (s. 27. Kap). Stemmt er sich gegen die Macht der Gesellschaft und ihre Regeln, riskiert er die Isolierung oder er „jagt sich eine Kugel durch den Kopf“ (Instetten). – Dass nach heutigen Maßstäben die Adelsgesellschaft äußerst kritikwürdig ist, darf uns nicht dazu verleiten anzunehmen, ein zeitgenössischer Autor (Fontane) habe Ende des 19. Jahrhunderts seine Zeit genauso gesehen und beurteilt wie wir Menschen des 21. Jahrhunderts!