Wenn nur der Stärkere überleben darf laut Naturgesetz…
Dieses Gesetz gilt nur in der Tier- und Pflanzenwelt, nicht aber in der Menschenwelt.
In der Menschenwelt gelten andere Prinzipien, die z.B. Goethe in seinem Gedicht „Das Göttliche“ ausgedrückt hat: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut, denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen.“ M.a.W. Wer die Fähigkeit des Menschen zum Guten negiert, wird zum Tier.
Ich kenne keinen Philosophen, der den Schwachen einfach im Stich lässt, mit Ausnahme vielleicht Nietzsche („Auch du bist Wille zur Macht und nichts außerdem!“). Aber er sagte auch: Güte sei Wille zur Macht. Doch er ist in seiner Einstellung gegenüber den Schwachen sehr zweideutig; das Christentum, das sich für die Schwachen einsetzt, hat er sogar verflucht.
Aber sonst die berühmten Philosophen? Z.B. Kant, Schopenhauer, Aristoteles. Kant fordert rigoros den kategorischen Imperativ. Aristoteles fordert tugendhaftes Verhalten (also z.B. die Mitte zwischen Hartherzigkeit und Weichheit = tätiges Mitleid) oder Schopenhauer mit seiner Mitleidsphilosophie (dass der Mensch sein zum brutalen Egoismus neigenden Willen zum Leben verneint oder zumindest dämpft, erst dann ist er ein Mensch, wie ihn Goethe in dem Gedicht „Das Göttliche“ charakterisiert hat).
Soweit die Theorie. Aber die Praxis sieht anders aus: Man nehme das Berufsleben: z.B. Die Medizin. An der Spitze stehen die Könner, die Spitzenärzte. Wer weniger Talent hat, hat auch weniger Renommee bzw. der Unfähige fällt hinten herunter. Oder der Anwaltsberuf: Als Junge begleitete ich meinen Vater, der Anwalt war, zu einer Revisionsverhandlung. Vorne saßen drei Richter. Ein Rechtsanwalt hatte sich offenbar schwer geirrt. Der Vorsitzende Richter machte ihn darauf aufmerksam. Da der Anwalt keine weitere Erklärung abgab, wandte sich der Vorsitzende erst nach links, dann nach rechts, dann schloss er die Akte und sagte: der Nächste bitte. Einige grinsten, mein Vater auch. Der irrende Anwalt jedoch schlich sich aus dem Zimmer. So ist die Praxis: Wer schwach ist, hat nichts zu melden! (Hat Nietzsche vielleicht doch recht)?
Aber der schwache Mensch darf doch wenigstens weiterleben! Ja, aber was ist das Leben ohne Rang, ohne Renommee, ohne Prestige? Ein Nichts - sagen viele!