Waren die Jugendlichen Ende des 19. jahrhunderts größtenteils aufgeklärt oder eher nicht (in Deutschland)?

6 Antworten

Eher selten. Im Bildungsbürgertum wurde den Knaben, wenn es hoch kam, vom Vater ein Zettel mit den Worten "Penis, Hoden, Vagina, Ovarien, Schwangerschaft" hingelegt, mit dem Auftrag, die Begriffe im Konversationslexikon nachzuschlagen. Wohl eher mit magerem Ergebnis. Wobei man berücksichtigen muss, dass z. B. die weiblichen Eizellen erst 1827 entdeckt wurden. Die Mediziner waren also selbst noch wenig "aufgeklärt".

Die Hauptinformation lief, soweit man sie so nennen kann, wohl eher über Andeutungen oder zotenhafte "Erfahrungsberichte" von Älteren.

Es gab viele ungewollte Schwangerschaften und Kindstötungen, auch Selbsttötungen von Müttern. Nicht nur wegen fehlender Verhütungsmethoden, sondern auch aus Unkenntnis über Sexualität.




EmperorWilhelm  19.04.2017, 18:32

Ich muss sagen erstere Anekdote finde ich sehr interessant. Das ist jetzt weniger als Gängelunggemeint sondern eher eine Interessenfrage: Aus welcher Quelle haben sie das?

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Aleqasina  20.04.2017, 08:50
@EmperorWilhelm

Auskunft eines Großonkels, der es noch Ende der 40er Jahre (also 20. Jahrhundert!) so erlebt hat. Daraus schließe ich, dass es in der Generation vorher auch nicht anders war. Vielleicht bildet die Freikörperkultur im frühen 20. Jahrhundert eine Ausnahme.

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Auf dem Land wusste jedes Kind, was der Bock mit der Ziege gemacht hat und was dabei heraus kommt. In den Städten sah das ein wenig anders aus. Da war das Wissen doch sehr begrenzt und über Verhütung wusste so gut wie niemand bescheid. 

Eher nicht. In den unteren Schichten konnten die Kinder ihre Eltern beobachten, aufgrund der beengten Wohnverhältnisse. Sicher werden die Kinder untereinander spekuliert haben, was die Eltern da tun und so nach und nach "aufgeklärt" worden sein. Die Eltern werden die Kinder nicht aufgeklärt haben

In den oberen Schichten waren die Kinder noch Ahnungsloser. Wenn nicht ein Dienstmädchen oder ein Hausknecht mit der Sprache rausgerückt sind, gingen die Mädchen ahnungslos in die Ehe, die Jungen wurden beim Militär oder als Studenten von Kommilitonen aufgeklärt.

Auch Erwachsene waren bis Mitte des 20. JH. größtenteils nicht oder falsch aufgeklärt und unterlagen strengen sittlichen und moralischen Vorstellungen, die zudem noch eng geregelt wurden, auch in einer Ehe und außerhalb des Familiensitzes.

Vollwertige Gattinnen und vollkommene Ehen Wie soll bei einem solchen Start eine glückliche Ehegelingen? kritisierte dazu ab 1879 ein Dr. Karl Weißbrod in seinem „Hochzeitsbrevier für Brautleute und Vermählte“. Mit dieser Schrift, die „Gattenpflichten christlich und ärztlich“ und noch dazu „nach dem neuesten wissenschaftlichen Standpunkte“ beleuchten sollte, wollte erAbhilfe schaffen. Sittsamkeit stand dabei allerdings auch für Weißbrod an oberster Stelle, und so referierte er ganz im Sinne deschristlich-konservativen Zeitgeistes inbrünstig von „Der Heiligkeit desEhebettes“ und der Bedeutung des göttlichen „Seid fruchtbar und mehret Euch“. Damit seine Schäfchen den zwecks Arterhaltung gottgewollten Geschlechtstrieb nicht zur sündhaften „Leidenschaft und unersättlichen Begierde“ entwickelten, bemühte sich der Arzt um möglichst genaue Anleitungen: So stellte er im Kapitel „Vom richtigen Maßhalten imEhebette“ klar, dass stets der Mann, niemals die Frau festlege, wann der Beischlaf auszuüben sei – zum einen, weil Gott das so wolle, zum anderen aber auch, weil „infolge der Überreizung des Gehirns und Rückenmarkes bei allzu häufiger Begattung“ dem Mann ernste gesundheitliche Schäden drohten. Die Frau solle sich ihrem Gattenhingegen möglichst immer ohne Zier hingegeben, sobald dieser danach verlange – um Gottes Willen aber nicht direkt zweimal hintereinander, denn das wäre für ihn „nervenmörderisch“. Junge Leute dürften zweimal in der Woche die Ehe vollziehen, nicht mehr ganz kräftige aller zwei Wochen und ältere Leute, wenn überhaupt, noch einmal im Monat.

Wer schwache Nerven hat und nach Aufregung schlecht einschlafe, solle lieber morgens statt abends miteinander schlafen – andere Zeiten sah Weißbrod grundsätzlich nicht dafür vor.

Auch für das „Verhalten vor und nach dem Beischlafe“ machte der Arzt eindeutige Ansagen: Nach dem Essen, nach Bällen, Fußballspielen, Eisenbahnfahrten oder anderen Gemütsbewegungen hat Ruhe im Bett zu herrschen. aus: http://www.urbia.de/magazin/familienleben/politik-und-gesellschaft/sex-und-ehe-zu-ur-omas-zeiten

Noch Ende des 19. Jahrhunderts konnte man in der "Allgemeinen
Encyklopädie der Wissenschaften und Künste" unter dem Stichwort "Onanie" nachlesen: "Selbstschändung, Selbstschwächung, Selbstbefleckung, Selbstbefriedigung. Sie gehört zu den wichtigsten physisch-moralischen Krankheiten, hauptsächlich der Städter, und herrscht seuchenartig in unserem Zeitalter.
" aus: http://www.aerztezeitung.de/panorama/article/617354/onanierverbot-sex-aufklaerung.html

Hier auf elf Seiten wissenschaftlich erhobene und ausgewertete Interviews: Stefan Bajohr - Sexualaufklärung im proletarischen Milieu, Geschlechtskrankheiten und staatliche Eheberatung1900 bis1933 https://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/fileadmin/Redaktion/Institute/Sozialwissenschaften/Politikwissenschaft/Dokumente/Bajohr/Sexualaufklaerung_im_proletarischen_Milieu__Geschlechtskrankheiten_und_staatliche_Eheberatung_1900_bis_1933_S_59-69.pdf

Und, konnte ich weiterhelfen?

Gruß seniorix

vermutlich weniger als heute, allerdings ist heute ein dehnbarer Begriff, wenn man sich anschaut, was hier im Forum teilweise für Fragen auftauchen.