Musik der Romantik-Motiv der Unendlicheit?

3 Antworten

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Generell ist zu fragen: Meinst Du Unendlichkeit/Entgrenzung als Motiv oder als Topos? Die Antworten hier sind ja bislang überzogen allgemein und bis zur Ungerechtigkeit schwammig.

Der Topos der Hinwendung zum Tod ist in der Romantik natürlich sehr stark vertreten und äußert sich vor allem als Topos des archetypischen ungestillten Sehnens, konkret, vor allem des Liebessehnens. Hier gibt es in der Frühromantik die für das 19. Jahrhundert maßgeblich gewordenen Titel der "Schönen Müllerin" (Schubert) und der "Fernen Geliebten" (Beethoven), die geradezu zum Muster wurden und vor allem von Schumann bis Mahler und den frühen Berg auch musikalisch-motivischer Form und sogar bis hin zum musikalischen Zitat (z.B. in Schumanns Dichterliebe) aufgegriffen werden. Auch im Symphonischen Repertoire gibt es die Entgenzung, etwa im wiederum maßgeblichen letzten Satz von Beethovens 9., wo, wiederum auf Grundlage eines dichterischen Textes, der Bezug zum Metaphysischen (z.B. "Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen") aufgebaut wird. Das Spätwerk Beethovens, vor allem in der Literatur für Klavier und für Streichquartett, ist durchgehend von Grenzüberschreitung gekennzeichnet. Wagner versucht daran anzuschließen (Tristan), sowohl inhaltlich als auch harmonisch. Die absolute Musik widmet sich dem Topos der Unendlichkeit eher spät in der Romantik, etwa Bruckner im langsamen Satz der 9. Symphonie (vgl. eine vom Komponisten mit "Abschied vom Leben" betitelte Stelle). Mahler schließt wieder an seine Vorgänger (v.a.Schubert) an. Das "ungestillte Sehnen" erfährt in seinem Schaffen eine auf die "Ferne Geliebte" zurückführbare Konkretisierung in einem musikalischen Motiv bzw. einer melodischen Geste, das/die sehr häufig in seinem Schaffen vorkommt (etwa in den "Wunderhorn"-Liedern), nämlich ein langsamer stufenweiser Aufstieg, der am Ende abphrasiert wird. Auch das freiwillige oder erzwungene Ende im Tod ist ein bei Mahler sehr oft vorkommendes Motiv.


saezel 
Fragesteller
 29.05.2018, 19:00

vielen, vielen Dank!! Genau nach solchen Informationen habe ich gesucht!

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Die literarische Romantik hat weder das Motiv der Unendlichkeit noch des Fernwehs, das sind vielleicht heutige Interpretationen oder zumindest viel zu oberflächliche und deshalb falsch geratene.

Es gab ca. acht Themen:

1 Der empfindsame Mensch (Die Liebe zu Mensch und Natur)

2 Der heldenhafte Mensch (Kampf für Freiheit gegen das Schicksal)

3 Die Reise in die Vergangenheit (Sehnsucht nach ewigen Werten, z. B. der Antike oder des Katholizismus, die nicht veränderbar, einfach "wahr" sind)

4 Der Weltschmerz des Ungeliebten (Melancholie)

5 Die Nacht der Träume (Ich als Teil des geschlossenen Universums)

6 Die Kraft der Natur (Ich im Gespräch mit seiner Welt)

7 Der Zauber des Märchens (Unmöglichkeiten als Wirklichkeit)

8 Die Macht des Todes (Erkenntnis der Endlichkeit - Todessehnsucht als Schritt in die Unsterblichkeit des christlichen Paradieses)

Die musikalische Romantik kennt das Thema der Unendlichkeit auch nicht, schon gar nicht ein Fernweh.

E.T.A. Hoffmann führt 1810 die literarische Wertung "romantisch" in seiner Rezension der 5. Sinfonie Beethovens ein und meint damit, dass die Musik endlich nicht mehr der Sprache untergeordnet ist, sondern ein selbstständiges Kunstsystem sein kann. Ich vermute, "alle" Menschen heutzutage hielten diese Sinfonie für klassisch.

G.W.F. Hegel teilt die Kunst (Vorlesungen über die Ästhetik 1835/1842) in symbolische oder klassische oder romantische Kunst ein.

R. Wagner erfindet 1849 (Das Kunstwerk der Zukunft) das Schimpfwort von der "absoluten Musik" als Bezeichnung für eine von der Sprache und von "Tanz und Darstellung" losgelöste Musik. Nur das "Gesamtkunstwerk" wie bereits im Mittelalter sei Musik.

E. Hanslick übernimmt 1854 (Vom Musikalisch-Schönen) den Begriff Richard Wagners von der "absoluten Musik"; also Musik hätte nur einen Wert, wenn sie gelöst von außermusikalischen Themen sei - gegen z. B. die Neudeutsche Schule mit Literatur als Motiv der Musik.

Das Thema der UNENDLICHKEIT ist erst ein Thema der Moderne:

Wagners Tristan 1859 hat zwar das literarische Thema der unerfüllten Liebe mit einer Todessehnsucht zur Erfüllung, deshalb ist da auch vier Stunden lang kein einziger harmonisch gelöster Akkord als Zeichen der Sehnsucht nach Endlichkeit und als erfülltes Ende ein langanhaltender aufgelöster E-Dur-Akkord. Der Tristan-Akkord zu Beginn ist der weitmöglichste Akkord im Schema seit A. Werckmeister (J. S. Bach), der nächste Schritt ist der moderne Bruch mit dieser barock-klassischen Funktionsharmonik, die Unendlichkeit der Atonalität, nicht einmal der streng geschlossenen Zwölftonmusik der 1920-er Jahre oder vorher der Polyharmonik Strawinskys im "Sacre" 1913. Auch die offene Form nach dem Zweiten Weltkrieg entspricht eher dem Geist der Unendlichkeit.


achwiegutdass  28.05.2018, 09:22

"Die literarische Romantik hat weder das Motiv der Unendlichkeit noch des Fernwehs"

oder: wie Unwissen sich zur Norm erheben will.

Nie von Fr. Schlegel (u.a.) gehört (Unendlichkeit)? Nie von Eichendorff (u.a.) gehört (Fernweh)?

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Skoph  28.05.2018, 09:56
@achwiegutdass

Das ist genau die Fehldeutung aus meist schulisch vereinfachter Sicht. Ich musste das auch noch im Gymnasium so grundsätzlich falsch lernen.

Z. B. Eichendorff und Droste von Hülshoff waren erzkatholisch: Der "Taugenichts" hat kein romantisches Fernweh, sondern wandert nach Wien als Kulturhauptstadt und Rom als katholische Hauptstadt; beides sind Orte der Geborgenheit, der Endlichkeit eines Systems. Eichendorff bewertet die Natur, das Universum als Schöpfung Gottes, da gibt es keine Unendlichkeit. Man kannte zu seiner Zeit nicht einmal Gefühle, sondern immer noch Affekte, also am Geist "angeheftete" Leidenschaften (vgl. Descartes, Kant). "Gefühle" im heutige Sinne entstanden erst um S. Freud (Traumdeutung 1900).

In der "Judenbuche" treibt den Mörder nicht das schlechte Gewissen in den Selbstmord, sondern der alttestamentarische Gottvater straft den Mörder mit Selbstmord, eine der größten Sünden im katholischen Glauben. Deshalb ist es auch gleichgültig, ob den Mörder am Ende seine Narbe entlarvt; er MUSS es in der Endlichkeit des katholischen Weltbildes sein.

Z. B. zeigt Shelleys Frankenstein auch noch kein Fernweh; denn es geht nicht um die Schilderung der abenteuerlichen Reise bis zum Eispol, sondern nur um die Metapher der "Jagd um die Welt" bis zum ENDE der Welt, wo das Monstrum festgehalten bleiben wird. Das unvorstellbare Ende der damaligen Zeit. Auch gar nichts Unendliches aus meiner Sicht.

Und Fr. Schlegel ging es nie um den Unendlichkeitsbegriff z. B. A. Einsteins. Es handelte sich vor ca. 1900 immer um anfänglich-endliche Systeme, um komplexe Kategorisierungen des Verstandes, die den Kosmos als Wahrheit und das Chaos als unlogisches Unsein bewerten. Erst die Chaostheorie der Moderne erkannte mehr. Die Frage ist hier, was in dieser Frage unter "Unendlichkeit und Fernweh" verstanden wird.

Meine Deutungen der Begriffe haben mit dem Zeitalter der Romantik fast nichts zu tun. Allerdings war ich bereits als Gymnasiast aufständisch, wenn ich Unsinn lernen sollte.... Egal, ich wollte hier nur wieder einmal ein wenig zum Nachdenken anregen. Sapere aude! Grüße!

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achwiegutdass  28.05.2018, 10:10
@Skoph

"Sapere aude" ist hübsch...

Wenn ich mich hier verraten könnte, würde ich dir dringend raten, meine diesbezüglichen Bücher zu lesen - hat mit "schulisch vereinfachter Sicht" herzlich wenig zu tun. 

Falsches zu wiederholen hat noch nie zu einer Wahrheit geführt. Bei Eichendorff habe ich eigentlich mehr die Gedichte im Sinn, aber auch eine genaue Lektüre des Taugenichts führt zum Unendlichkeitsbegriff - Voraussetzung dafür ist, dass man lesen lernt und nicht einfach eine Reihe von Motiven erwähnt. Droste und die Judenbuche habe ich nie zur Romantik gezählt, weil das einfach falsch ist - dein Problem, wenn du das so siehst, was allerdings verrät, wie wenig du davon verstehst.

Schlegel und die Unendlichkeit, etwa: "Nur durch Beziehung aufs Unendliche entsteht Gehalt und Nutzen; was sich nicht darauf bezieht, ist schlechthin leer und unnütz."

Habe Mut, (richtig) zu lesen!

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Skoph  28.05.2018, 14:12
@achwiegutdass

Ich sage es ´mal anders: Jawohl, ich habe das Problem, dass ich in einem religiös-patriarchalisch geschlossenen Weltbild der Dichter und Denker des 19.Jhs. kein "Fernweh" in eine "Unendlichkeit" erkennen kann, denn diese Welt ist aus meiner Sicht beschränkt auf Heimweh und Endlichkeit inklusive des Jenseits.

Kleines Beispiel: Eichendorff: "Und meine Seele spannte/weit ihre Flügel aus,/flog durch die stillen Lande,/als flöge sie nach Haus." Dieser Flug in das Himmelreich ist in meinem Sinne eben kein Flug in die Unendlichkeit.

Ich denke da eben wie Novalis (Fragmente über Poesie) schrieb: "Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es."

Ich weiß, dass man die "Judenbuche" zumindest noch als Brücke der Spätromantik ins Biedermeier betrachtet, aber wusste das die Droste, als sie dies Werk romantisierend erzkatholisch schrieb?! Das sollte doch nur ein kleines Beispiel sein, dass es auch hier wieder ´mal um die Endlichkeit des katholischen Weltbildes handelt. Aber wenn man das als unendlich (mit Fernweh) bezeichnen möchte, von mir aus.

PS: Das war meinem Unverständnis bereits im Gymnasium egal, ich schrieb eben hin, was beste Noten ergab, nicht was ich dachte; war sicher besser so.

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saezel 
Fragesteller
 29.05.2018, 18:57

obwohl ich doch sehr deine Meinung respektiere und mit höchsten Respekt vor deinem gewaltigen Fachwissen, glaube ich dennoch dass das Motiv der Unendlichkeit in der Romantik vorkommt. Wie bereits @achwiegutdass ein paar Werke angeführt hat, kann man einfach nicht ignorieren, wie stark in diesen Gedichten die Grenzenlosigkeit, Fernweh, Sehnsucht und Unendlichkeit vorkommen. Der italienische Dichter Giacomo Leopardi hat sogar eines seiner Gedichte "L'infinito" genannt, und klarer als die Unendlichkeit in diesem Gedicht vorkommt, geht es gar nicht...

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Skoph  30.05.2018, 15:49
@saezel

@saezel Das Problem beruht ganz einfach darin, dass ich im Geiste des 20. Jhs. den Begriff "Unendlichkeit" zu verstehen suche. Die Menschen der Romantik konnten nur im Sinne der damaligen Zeit, ihres damaligen Wissens eine "Unendlichkeit", "ihre Unendlichkeit" anstreben, das ist aber doch keine im heutigen Sinn: Die Verwendung der offenen Form als Metapher für Unendlichkeit, der Raumzeit mit Zeitparallelen und Massenbewegungen wie experimentierende Kollagen als Kunstform (vgl. B. A. Zimmermanns Oper "Die Soldaten" 1974), vielleicht auch die monoton-unendlich wirkende Minimalmusic von Phil Glass ab 1970 usw..

Auch die Antwort von baucolo bestätigt doch nur wieder meine Betrachtung: Schillers Ode an die Freude "überm Sternenzelt muss ein Vater wohnen", das Weltall ist also begrenzt (!) durch Gottpatriarch; Bruckners Sinfonien - es gibt ja wohl nichts das Ende (!) Suchenderes im katholischen Weltbild, Mahlers sinfonische Todessehnsucht ist das Ende (!) des Lebens, er war Jude mit so großer Gleichgültigkeit, dass er katholisch wurde, um seinen Posten zu behalten. Bergs und Schuberts kleinste filigrane Welten sind die Darstellung des Endlichen in Reinstform; höchstens Schumann hat den Blick in die Unendlichkeit, aber doch nicht musikalisch, sondern wegen seines krankhaften Wahnsinns... Es ist mir klar, dass meine Sichtweise nicht in einem Lehrbuch zur Romantik steht, sonst müsste ich auch noch eines schreiben, was aber wohl nie verwendet würde, das meinte ich ja zu Beginn mit "schulisch vereinfacht"! -

Und auch über das GEDICHT müssten wir haargenau semantisch streiten > Das Versinken im uferlosen All, ist das nicht auch nur die Sehnsucht nach einer größeren Endlichkeit als die unserer Erde, also eines Gedankens zu einer Zeit, in der man noch nur davon träumen konnte, zum Mond zu fliegen, in der man von Lichtgeschwindigkeit oder Lichtquanten oder Antimaterie oder Kernfusion oder auch vom Unterbewusstsein und Emotionshemmung als Lebensgrundlagen und... gar nichts wusste?!

G. Leopardi Das Unendliche 1831

 Lieb war mir immer dieser kahle Hügel

 Und diese Hecke, die dem Blick so Viel

Vom fernsten Horizont zu schau’n verwehrt.

Und wenn ich sitz’ und um mich blicke, träum’ ich,

Endlose Weiten, übermenschlich Schweigen

Und allertiefste Ruhe herrsche dort

Jenseits der niedern Schranke, und das Herz

Erschauert mir vor Grau’n. Und hör’ ich dann

Den Wind erbrausen im Gezweig, vergleich’ ich

Die grenzenlose Stille dort, und hier

Die laute Stimme; und des Ew’gen denk’ ich,

Der todten Zeiten und der gegenwärt’gen

Lebend’gen Zeit und ihres Lärms. Und so

Im uferlosen All versinkt mein Geist,

Und süß ist mir’s, in diesem Meer zu scheitern.

Aus seiner Sammlung CANTI

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Das Motiv der Entgrenzung hat sehr viel mit Unendlichkeit und Fernweh zu tun, und das findet man in der Musik der Romantik genauso.

Im Vergleich zur Wiener Klassik hält man sich in der Romantik nicht mehr so genau an Regeln: Man komponiert nicht mehr nur nach Gesetzen (wie der Sonatensatzform oder so), und verlässt auch teilweise das Dur-Moll-tonale System (z.B. bei Wagners Tristanakkord; also man kombiniert jetzt auch Töne zu Akkorden, die sich nicht untreinander in Beziehung setzen lassen - im Vergleich dazu hat man in der Klassik eigentlich nur mit Dreiklängen und sowas gearbeitet). Dadurch überwindet man die kompositorischen Grenzen der Wiener Klassik und schafft auch mehr Freiraum bzw. Freiheit für den Künstler, der nicht mehr in strikten Systemen "eingesperrt" wird. Da hat man also das Motiv von Entgrenzung und Freiheit - und die sind gar nicht mehr so weit weg von Unendlichkeit.

Es würde vielleicht auch noch zu Unendlichkeit passen, dass die Orchester immer größer geworden sind in der Romantik (zum Beispiel bei Mahlers "Sinfonie der Tausend").

(das ist jetzt einfach nur mein irgendwie für die letzte Musikklausur angelerntes Wissen mit bisschen Deutsch kombiniert und ich bin kein Experte für keines von beiden Fächern, also hab ich keine Ahnung ob man die Frage auch besser beantworten kann... Naja ich habs versucht :D Hoffe das hilft dir irgendwie weiter)


saezel 
Fragesteller
 29.05.2018, 18:51

uh, Dankeschön! Bin echt überrascht, wie viele Beziehungen man da herstellen kann... Hilft mir auf jedem Fall! :D

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