Inwiefern hat sich die Welt ins schlechte verändert?

6 Antworten

Das Phänomen ist bekannt und man nennt es die "rosarote Brille" bei der Retrospektive.

In der Rückschau erinnert man sich natürlich viel lieber an schönes und unser Gehirn (also das Unterbewusstsein) blendet negative Erinnerungen aus. Man muss sich echt anstrengen, um sich an negatives zu erinnern, wenn es Jahre und Jahrzehnte her ist.

"Früher war alles besser" meint in vielen Fällen: die Welt war damals einfacher. Es gab nicht so viel Technik, Zusammenhänge waren besser zu verstehen, insgesamt war Leben einfacher usw.

Meine Großelterngeneration hatte es sicher nicht besser:
Mütterlicherseits in den 1920ern geboren, haben sie den 2. Weltkrieg erlebt, wurden ausgebombt, mussten aus Schlesien fliehen - mit nicht mehr als Oma tragen konnte (Opa war an der Ostfront) - und liefen zwei Wochen im tiefsten Winter gen Westen. Das Baby (mein Onkel) starb währenddessen. Sein Grab war ein Straßengraben. In Dresden haben sie dann im Februar den großen Bombenangriff mitgemacht.
Auffanglager hier, Auffanglager da... kein eigener Besitz, außer den Kleidern am Leib. In Leipzig zur Ruhe gekommen, Wohnung zugewiesen bekommen, sich mit dem DDR-Regime angelegt und in den 1950ern Ausgewiesen worden.
2. Flucht, wieder nichts, außer den Kleidern am Leib. Auf Almosen angewiesen, wieder Auffanglager, Wohnungszuweisung, es dauerte bis 1962, bis man eine eigene Wohnung mieten konnte.

Auch väterlicherseits war es nicht besser. Auf dem Land haben sie zwar nicht viel vom Krieg mitbekommen, aber Hunger kannten sie auch. Zwar baute man selbst Lebensmittel an, aber dann kamen die Städter und klauten vom Feld was sie tragen konnten. Und als guter Christenmensch hat man sie gewähren lassen und hungerte lieber selbst.

Was sollte denn daran besser gewesen sein?

Ich bin aufgewachsen mit dem täglichen Spruch (und seiner Abwandlungen): "Wir hatten ja nichts." "Es gab ja nichts." "Was haben wir denn gehabt nach dem Krieg? Nichts!"

Mal ganz abgesehen von medizinischen Fortschritten. Bis vor 100 Jahren sind Menschen an einer Entzündung einfach gestorben. Der rostige Nagel, an dem man sich kratzte wurde für viele zum Sargnagel. Doch dann kam das Penicillin. Und noch tausend andere Errungenschaften, die jeden Tag mehr werden, unser Leben verlängern, einfacher machen, lebenswerter machen usw.

Das früher alles besser war, stimmt nicht.

Das ist ein ganz normaler Mechanismus des menschlichen Körpers, das man sich eher an die guten als an die schlechten Dinge erinnern kann.

Früher gab's auch probleme, halt andere. Auch damals hatte man Angst, nur ist diese heutzutage einfach nicht mehr wichtig.

1962 beispielsweise, bei der Kuba Krise, war die Welt verdammt nah an einem Atomkrieg. Wesentlich näher als aktuell. Solche Dinge werden irgendwie bei einem rückdenken komplett ausgeblendet. Les dich da Mal rein. Die Leute mussten, zu Recht, verdammt viel Angst gehabt haben.

Manche sagen, die Jugend wäre heute so schlimm. Das sagt man aber auch schon immer. Es gibt einen Spruch der angeblich von Sokrates kommen soll: "Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer". Ob das Zitat von Sokrates stammt, wage ich zu bezweifeln. Aber es ist bewiesene Maßen über 100 Jahre alt.

Heute haben einige Leute Angst vor Muslimen (warum, verstehe ich selbst nicht), vor ein paar Jahrzehnte hatten sie vor Zigeunern Angst.

Fakt ist, die Leute erinnern sich einfach mehr an die guten als an die schlechten Zeiten. Aber es war nicht alles besser.

Oder um Mal die Band Wizo zu zitieren: "Das was früher auch schon scheiße war, ist heute nur noch scheiß egal."

Früher waren sie fit und jung und haben die Welt geformt und verstanden.

Heute schauen sie nur noch zu und verstehen die Welt schlechter.

Jede Zeit (ausser im Krieg) hat ihre Vor- und Nachteile. Schwierigkeiten haben nur Leute, die einen Zeitenwandel mitmachen. Beispiel: heutige Eltern kennen die Uhr, aber ihre Kinder im digitalen Zeitalter sind oft nicht in der Lage, eine normale Uhrzeit auf dem Ziffernblatt zu erkennen. Wenn dann deren Kinder es nicht koennen, werden sie es als normal hinnehmen, waehrend die Grosseltern dieses nicht verstehen und von der guten alten Zeit reden. Das Beispiel mag in vielen Faellen haengen, ist aber massgebend.

Ich selbst bin Elternteil eines Teenagers im Zeitenwandel. Ich bin ohne Handy aufgewachsen, ohne online Fernbeziehung mit Kennlernphase, etc.. Habe eine Tochter (im Mai 14 Jahre) und versuche mein Bestes aus eigenen Erfahrungen mit dem Heutigen zu kombieren/zu vermitteln. Grosseltern gelingt dieses fast nicht mehr.

Früher hat man etwas unbeschwerter gelebt, weil man z.B. nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen mußte.