Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 hatte auch in Mitteleuropa große Auswirkungen auf das Ökosystem Wald. Vom Verzehr von Pilzen wurde damals wegen der hohen radioaktiven Belastung abgeraten, auch das Fleisch von Wildtieren war einige Jahre stark betroffen. Während die Belastung von Hirschen und Rehen im Lauf der Zeit wie erwartet zurückging, änderten sich die Werte beim Fleisch von Wildschweinen aber überraschend langsam. Noch immer werden deutliche Grenzwertüberschreitungen gemessen. Bis heute galt dieses „Wildschwein-Paradoxon“ als ungelöst.
Mehr Strahlung als die Physik erlaubt?
„Entscheidend für die Radioaktivität der Proben ist Cäsium-137, mit einer Halbwertszeit von rund 30 Jahren“, sagt Prof. Dr. Georg Steinhauser von der TU Wien. „Nach 30 Jahren ist also die Hälfte des Materials ganz von selbst zerfallen.“ Die Strahlenbelastung von Lebensmitteln geht aber normalerweise viel schneller zurück. Schließlich hat sich das Cäsium seit Tschernobyl verteilt, wurde vom Wasser ausgewaschen, in Mineralien gebunden oder vielleicht tief in den Boden verfrachtet, sodass es von Pflanzen und Tieren nicht mehr in derselben Menge aufgenommen wird wie direkt nach dem Reaktorunglück.
Bei Wildschweinfleisch ist die Sache aber anders: Da blieb die Strahlenbelastung beinahe konstant – sie geht deutlich langsamer zurück, als man das alleine schon durch den natürlichen radioaktiven Zerfall von Cäsium erwarten würde – ein aus physikalischer Sicht auf den ersten Blick völlig widersinniges Ergebnis.
Bis heute werden in ganz Europa Wildschweinfleisch-Proben gemessen, die für den Verzehr nicht geeignet sind, weil ihre Strahlenbelastung den erlaubten Grenzwert deutlich überschreitet. Das mag mitunter auch dazu führen, dass Wildschweine in manchen Gegenden kaum gejagt werden und oft große Schäden für Land- und Forstwirtschaft verursachen.
Auf der Suche nach dem Cäsium-Fingerabdruck
„Das ist möglich, weil unterschiedliche Quellen radioaktiver Isotope jeweils einen unterschiedlichen physikalischen Fingerabdruck haben“, erklärt Dr. Bin Feng, der am Institut für Anorganische Chemie der Leibniz Universität Hannover und dem TRIGA Center Atominstitut der TU Wien forscht. „So wird etwa nicht nur Cäsium-137 freigesetzt, sondern gleichzeitig auch Cäsium-135, ein Cäsium-Isotop mit deutlich längerer Halbwertszeit.“ Das Mischungsverhältnis der beiden Cäsium-Sorten ist nicht immer gleich – es war etwa bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl anders als bei den Atomwaffentests der 1960er-Jahre. Wenn man dieses Verhältnis misst, kann man somit Information über die Herkunft des radioaktiven Materials erhalten.
Cäsium-135 genau zu quantifizieren, ist aber sehr schwer. „Weil es eine so lange Halbwertszeit hat und nur selten zerfällt, kann man es nicht einfach mit Strahlenmessgeräten detektieren“, sagt Georg Steinhauser. „Man muss mit Methoden der Massenspektrometriearbeiten und relativ großen Aufwand treiben, um es präzise von anderen Atomen zu unterscheiden.
Dabei zeigte sich: Während insgesamt rund 90 Prozent des Cäsiums-137 in Mitteleuropa aus Tschernobyl stammen, ist der Anteil in den Wildschweinproben viel geringer. Stattdessen ist ein großer Teil des Cäsiums im Wildschweinfleisch auf Atomwaffentests zurückzuführen – bei manchen Proben bis zu 68 Prozent.
Der Hirschtrüffel ist (wahrscheinlich) schuld
Die Ursache dafür liegt an den ganz speziellen Nahrungsvorlieben der Wildschweine: Sie graben nämlich besonders gerne Hirschtrüffel aus dem Boden aus, und in diesen unterirdisch wachsenden Pilzen reichert sich das radioaktive Cäsium erst mit großer Zeitverzögerung an. „Das Cäsium wandert sehr langsam durch den Boden nach unten, manchmal nur rund einen Millimeter pro Jahr“, sagt Professor Steinhauser. „Die Hirschtrüffel, die in 20 bis 40 Zentimetern Tiefe zu finden sind, nehmen somit heute erst das Cäsium auf, das in Tschernobyl freigesetzt wurde. Das Cäsium alter Atomwaffentests hingegen ist dort schon lange angekommen.“
So ergibt sich ein kompliziertes Zusammenspiel unterschiedlicher Effekte: Sowohl das Cäsium der Atomwaffentests als auch das Cäsium aus Tschernobyl breitet sich im Boden aus, die Trüffel werden somit von zwei verschiedenen „Cäsium-Fronten“ erreicht, die nach und nach durch den Boden wandern. Andererseits zerfällt das Cäsium im Lauf der Jahre. „Wenn man all diese Effekte addiert, lässt sich erklären, warum die Radioaktivität der Hirschtrüffel – und in weiterer Folge der Schweine – größenordnungsmäßig relativ konstant bleibt“, sagt Georg Steinhauser.
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