Liebe Slyphe,
bestimmt ein halbes Dutzend Mal habe ich Deinen Eintrag jetzt ganz in Ruhe gelesen, um herauszufinden, welche Stellen mich am stärksten stolpern lassen und mich innerlich so »Oha!« sagen lassen. Und dann habe ich auch lieber nicht spontan geschrieben, sondern denke, dass das, was Du da erlebt hast, zu wichtig, zu schmerzlich ist, als dass einige schnell »geschossene« Bemerkungen und Kommentare Deiner Situation gerecht werden könnten. Jetzt habe ich mich aber doch dazu entschieden, an Deinem Text entlangzugehen und sie einfach der Reihe nach durchaus alle zu nennen, warum nicht?, so dass Du sie selbst für Dich einordnen und gewichten kannst. Und meine Gedanken kann ich Dir ja schon mal jeweils dazu sagen; dafür ist das Forum hier ja auch da. Und Du möchtest ja schließlich auch Antworten bekommen; das ist ja schließlich der Grund, weshalb Du geschrieben hast. ‒ Vielleicht fange ich also einfach mal an:
1 ‒ »Sie wusste nicht, dass ich noch Jungfrau bin…«
Fast will mir scheinen, dass Du da schon im dritten Satz Deines Eintrags dasjenige nennst, was ich, alles in allem, vielleicht als das Hauptproblem Eurer Begegnung empfinde: dass Ihr zu wenig miteinander über Eure (vor allem auch: nicht nur sexuellen) Erfahrungen und Bedürfnisse redet und Euch deshalb auch nicht gut genug kennt, und zwar insgesamt. Natürlich hat es vor Eurem ersten Treffen eine Vorgeschichte gegeben, im Internet oder auf eine andere Art und Weise. Aber wie tief ging dieses Kennenlernen eigentlich wirklich? Kannst Du ehrlich das Gefühl haben, dass das andere Mädchen Dich wirklich kennt, als Person, als Menschen? Was weiß sie von Dir? Was weißt, umgekehrt, Du ‒> von ihr? Vielleicht haben dazu zweie »beigetragen«: Sie, Ältere, Erfahrenere, vielleicht gar Routinierte, die Dich als die Jüngere nicht sanft genug nach Deinen bisherigen Erfahrungen gefragt hat, und Du, ‒ die Du möglicherweise nicht den Mut hattest, es ihr zu sagen, weil ein Angstgefühl oder eine bestimmte Befürchtung Dich blockiert hat, Dir den Mund gleichsam wie versiegelt, verschlossen hat, stelle ich mir vor. Wenn an diesem Gedanken etwas dran ist, dann wären das zwar sehr unterschiedliche, aber gleichermaßen unglückliche Anteile.
Intimität
An dieser Stelle ist mir doch noch ein Wort aus dem vorhergehenden Satz aufgefallen: »intim«: »Beim ersten Treffen wurden wir schon intim miteinander […].« Wenn man das lateinische Wort intimum wörtlich ins Deutsche übersetzt, dann heißt es »das Innerste«. Wenn ich mit jemandem »intim« werde, dann bedeutet das also, dass ich mich einem anderen Menschen öffne und ihm Zugang gewähre zum eigenen Innersten. Und das Innerste in uns, das ist, natürlich, genau auch jene Stelle, an der wir ganz schutzlos und verletzlich sind. Unser Innerstes ist, könnte man gewissermaßen sagen, unser ganz persönliches »Allerheiligstes«. Damit es gelingt, eine »Intimität« miteinander zu entwickeln, in der sich beide gleichermaßen geborgen fühlen können, wird zwei Menschen also ein hohes Maß an Sanftheit, an Zärtlichkeit, an Aufmerksamkeit für den anderen nötig sein, damit dieses schutzlose »Innerste«, das Herz, die Seele, nicht verletzt wird. Das alles geht aber nicht schnell, sondern verlangt wirklich ‒ Zeit. Das Vierte also, das nötig ist, mindestens, für eine wirklich wohltuende seelische wie sexuelle Intimität, ist tatsächlich: Langsamkeit. In allen Dingen der Intimität ist Langsamkeit etwas zutiefst Kostbares ‒ und auch durch nichts anderes in irgendeiner Weise zu ersetzen. Wenn ich so recht darüber nachdenke, lässt sich daraus tatsächlich eine Regel ableiten, eine ganz wichtige, wie ich denke: Die Hände der einen dürfen nicht schneller sein als die Seele der anderen. Deine Seele darf sich nie anstrengen müssen, mit den Händen des anderen Mädchens Schritt zu halten, hinter ihnen herzukommen.
2 ‒ »…und hatte dementsprechend Dinge ausprobiert, die ich ständig abbrechen musste, da ich starke Schmerzen dabei hatte.«
Das ist jetzt ein Punkt, der mich tatsächlich nachdenklich macht. Ich verstünde gerne, was sie immer wieder neue Dinge ausprobieren wollte, wo Du ihr doch durch Dein Einschreiten, dein wiederholtes Abbrechen mehrmals zu verstehen gegeben hast, dass das, was sie da tat, zu schnell war, zu intensiv war und Dich überforderte. Hattest Du das Gefühl, dass sie Deine Überforderung und Verletzlichkeit wahr- und auch ernstnimmt? Du hast Dich ja schließlich mehrfach massiv verteidigen müssen, hast unmissverständlich und mehrfach deutlich Grenzen ziehen müssen, um Dich zu schützen. Dabei sollte eigentlich weder das eine noch das andere nötig sein: weder so oft noch so schneidend deutlich.
3 ‒ »…meinte sie, ich solle ihr vertrauen und mich entspannen« / »…aber auch wenn ich gewollt hätte…«
Natürlich hat sie recht: Für eine wirklich schöne Begegnung im Bett sind beide unverzichtbar: Vertrauen und Entspannung ‒ wobei die auch körperliche Entspannung die Folge des inneren, des seelischen Vertrauens ist. Und ich vermute, dass Dir beides fehlte: Du konntest Dich nicht entspannen und öffnen, weil ihre Hast und ihre Experimentierfreude am Anfang Dich verschlossen hatten. Und Ihr habt Euch nicht genügend Zeit genommen, über Deine wahre Gefühlslage zu sprechen. Das ist ja auch tatsächlich gar nicht einfach, denn sowohl das eine wie das andere ist sehr anspruchsvoll: das Sich-Öffnen beim Reden einerseits und das wirklich aufmerksame und das wirklich liebevolle Zuhören andererseits. Beides fällt uns nicht vom Himmel in den Schoß, sondern muss langsam gelernt und eingeübt werden ‒ über Wochen, Monate… und Jahre. Nehmen wir uns diese Zeit nicht und sind wir nicht bereit, uns dieser Lernaufgabe zu stellen, dann werden wir immer Gefahr laufen, einander zu überrumpeln, zu überrennen ‒ und dann auch zu verletzen.
4 ‒ »Sie wollte mich entjungfern […]«
Eure erste wirkliche Begegnung. Eure erste Nacht. Und sie »will«? Es ist natürlich sehr irritierend, dass Du selbst, dass Dein Wünschen und Wollen, dass Deine Bedürfnisse da gar nicht vorkommen. Wir weit Ihr in diesem Moment seelisch auseinander lagt, obwohl Ihr im Bett körperlich ja ganz nah beieinander wart, sagst Du ja selbst sehr deutlich: »(was ich eigentlich noch nicht wollte)« Natürlich kann es sehr schön für Dich, zu spüren zu können, dass die andere Dich begehrt. Aber allem Anschein nach hat sie Dich mit der Intensität ihres Begehrens überrollt, so dass ich den Eindruck bekomme, Du bist da, um im Bilde zu bleiben, sozusagen unter die Räder gekommen, unter die Räder ihres Begehrens.
5 ‒ »Jetzt denke ich aber, dass ich bereit bin […]«
Dieser Satz ist sehr bemerkenswert. Er kam für mich völlig überraschend beim Lesen; ich erinnere mich ganz genau. Denn nichts zuvor hatte ihn angekündigt (sondern eher das Gegenteil vermuten lassen: dass Du Dich weiterhin noch nicht bereit fühlst für eine intensive sexuelle Begegnung, wie sie ihr durchaus bereits vertraut zu sein scheint), und nichts danach, nach diesem Satz, hat den Wandel Deiner inneren Gestimmtheit erklärt. Und deshalb gilt diesem Satz meine ungeteilte Aufmerksamkeit; desto neugieriger ‒ wenn das erlaubt wäre ‒ wäre ich, etwas über diesen Weg zu erfahren, den Du innerlich zurückgelegt haben musst von »was ich eigentlich noch nicht wollte« hin zu »dass ich jetzt bereit bin«.
6 ‒ »Sie kommt für zwei Tage zu mir, und ich habe jetzt schon Angst.«
Das ist sehr gut und sehr wichtig, dass Du das sagst. Und es wird Dich jetzt vielleicht nicht überraschen, dass ich Dein so aufrichtig geäußertes Angstgefühl für ehrlicher halte als den Satz »Jetzt denke ich aber, dass ich bereit bin und möchte, dass sie es dieses Wochenende nochmal probiert«.
Natürlich ‒ man muss immer sehr vorsichtig sein, wenn man überzeugt ist, genau zu wissen, was dem anderen gut tut. Aber in diesem Falle traue ich mich dennoch, die Empfehlung auszusprechen, mehr miteinander zu reden, je früher, desto besser. Dass Ihr nicht genügend miteinander wirklich redet, Euch als Menschen und das, was Euch ausmacht und bewegt, einander nicht wirklich mitteilt, ist vielleicht dasjenige, was Euch beiden dann, unterm Strich, am meisten Schmerz und Frust und Angst bereitet, ist meine Wahrnehmung. ‒
Jetzt bin ich eigentlich am Ende mit dem, was ich Dir von meinen Eindrücken und Gedanken sagen wollte, ‒ und genau in dem Moment, wo ich am Ende bin, geschieht etwas, womit ich wahrlich nicht gerechnet habe: Ich erinnere mich an ein Gedicht, das ich einmal geschrieben habe. Es ist jetzt mittlerweile doch schon eine Reihe von Jahren her, dass ich einmal einem jungen Frauenpaar aus meinem Freundeskreis ein Gedicht geschrieben habe, dem ich schließlich den Titel »Liebessegen« gab. Wir waren damals alle zusammen im Studium ‒ und also tatsächlich in etwa so alt wie Ihr beide jetzt gerade, Anfang zwanzig. Und an seine zweite Strophe, an die fühlte ich mich gerade eben im Zusammenhang mit Deiner Schilderung wie in einem plötzlich aufblitzenden Déjà-vu erinnert, und sie möchte ich Dir jetzt zum Schluss heute gerne an die Hand geben, mit auf Deinen Lebensweg. Sie lautet:
Dass die geheime Furcht, die andre zu verlier’n – die Furcht, sie könnte geh’n –,
Euren Mund zu Wichtigem verstummen lässt, das lasst nicht zu.
Sprecht über eure Wünsche, eure Ängste; lasst eure Liebste sie nur seh’n, ‒
Denn eure Worte, eure Wahrheit schenken letztlich auch der andern Ruh’.
Von Herzen viele liebe Grüße!
Achim