Blickwechsel 18. Mai 2022
Deine Fragen an einen Ex-Scientologen
Alles zum Blickwechsel

Was war das verrückteste was Sie erlebt haben?

DetlefRuchatz  19.05.2022, 07:34

Sorry, 14 Leute finden die Frage gut, aber mir fällt einfach nichts ein. Kannst du „verrückteste“ mit einem anderen Begriff ersetzen, welcher der Sache ebenfalls dienlich ist?

MCoekostrom2 
Fragesteller
 19.05.2022, 09:00

Komischste, bescheuertste, unglaublichste, schrecklichste, negativ besonderste und merkwürdigste?

1 Antwort

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Ich nehme mal eines der für meine Persönlichkeitsentwicklung einschneidendsten Erlebnisse. Es war etwa 2 Jahre vor Ende meiner Sea-Org-Laufbahn.

Ich war Übersetzer im CLO (überregionale Kirchenleitung) in Kopenhagen, und wir sollten 5 neue Internet-Sites übersetzen: jeweils eine für

Youth for Human Rights (Jugend für Menschenrechte)

United for Human Rights (Vereint für Menschenrechte)

The Way to Happiness (Der Weg zum Glücklichsein)

Volunteer Ministers (Ehrenamtliche Geistliche)

Anti Drug Campaign (Anti Drogen Kampagne)

Das war genug, um uns für die nächsten 6 Monate (mindestens) Tag und Nacht beschäftigt zu halten.

Überwacht wurde das Ganze von einem Sea-Org-Missionar von OSA INT (Office of Special Affairs, unter anderem auch für das berüchtigte Fairgame zuständig) aus Los Angeles. Ich nenne diesen Missionar einfach mal Mister F.

Abgesehen von der Site für die Ehrenamtlichen Geistlichen hatte ich ein Riesenproblem damit.

Scientology wird in keiner Weise in den anderen 4 Sites erwähnt.

Auf den Scientology-Sites an sich präsentiert sich Scientology zwar als Urheber dieser Kampagnen, geht man aber direkt zu den ganz oben aufgeführten Sites, ist die Verbindung mit Scientology nicht zu erkennen. Das heißt: 6 Monate Arbeit, ohne irgendeinen Beitrag zur Missionierung der Scientology zu leisten. Missionierung der Scientology ist jedoch, was unserer Abteilung (Dissemination) eigentlich tun sollte.

Daher berichtete ich den Missstand an das Religious Technology Center (RTC), die höchste Instanz in Scientology, mit dem Hinweis, die jeweiligen Organisationen/Vereine sollten sich um die Übersetzung kümmern. Wie erwartet gab es von dort keine Reaktion, da die Sites zwar keinen Beitrag zur Missionierung der Scientology leisteten, jedoch für die Public-Relations-Arbeit von OSA von Bedeutung waren.

Unabhängig davon hatte ich auch mit Mr. F. von OSA Int ein großes Problem. Er hatte 0 Ahnung von Übersetzungsabläufen. Alles, was er tat und anordnete, lief auf Sabotage hinaus. Auch dies berichtete ich, und zwar an die zuständige Ethik-Abteilung in OSA Int. Natürlich sandte ich Mr. F. ordnungsgemäß eine Kopie meiner Berichte über ihn.

Daraufhin fädelte Mr. F. die mit Abstand fieseste Intrige ein – um mich loszuwerden:

Der Ethik-Chef vom CLO kam auf mich zu, sagte, sie führe eine Ermittlung gegen Mr. F. durch und fragte mich, ob ich irgendwelche Daten hätte. Ich dachte: Jetzt geht’s los. Ich wusste noch nicht, dass Ms. F. höchstpersönlich hinter der angeblichen „Ermittlung“ gegen ihn stand. Mir war aber klar, dass unser Ethik Chef niemals eigenständig gegen jemanden von OSA Int ermitteln könnte bzw. durfte. Arbeitete sie auf Weisung von RTC?

Nachdem sie die Show einer „Ermittlung“ abgezogen hatte, wurde mir gesagt, ich brauche die 4 Sites nicht übersetzen, sondern könne mich separat von der Übersetzungseinheit der Übersetzung der Site für die Ehrenamtlichen Geistlichen widmen. Separat von der Übersetzungseinheit war dies produktionstechnisch aber nicht möglich. Daher holte ich erstmal etwas Studierzeit nach. Das Problem war, dass ich jederzeit „abgeschossen“ werden konnte, wenn ich nichts produziere. Ich wusste noch nicht einmal, auf wessen Seite RTC stand. Nach ein paar Tagen spürte ich, dass sich die Dinge gewaltig zu meinem Ungunsten entwickelten. Eine winzige Bemerkung vom Ethik Chef lies mich jedoch aufhorchen und ich erkannte, dass der Ethik-Chef praktisch eine Marionette von Mr. F. war. An dieser Stelle bekam ich die glänzende Idee: Ich stellte eine völlig unschuldig klingende Anfrage an die Ethik-Abteilung in OSA Int: „Wie sie sicher wissen, ermittelt der Ethik Chef des CLOs gegen ihren Mitarbeiter Mr. F. Soll ich künftige Berichte über Mr. F. weiterhin an OSA Int schicken oder direkt an Ethik im CLO?“ Das schlug ein wie eine Bombe. Natürlich wusste Ethik OSA Int nichts von irgendwelchen Ermittlungen, und es war ein Ding der Unmöglichkeit dass Ethik CLO gegen OSA-Int-Mitarbeiter vorgehen würde.

Plötzlich konnte ich wieder zurück an meinen Arbeitsplatz, und sowohl der Ethik-Chef als auch Mr. F. zeigten sich mir gegenüber höchst respektvoll, geradezu ängstlich (speziell Mr. F.)

Wie ich später herausfand, war eine sogenannte Nicht-Enturbulierungsanweisung gegen mich schon geschrieben worden. Sie wurde im letzten Moment zurückgehalten. Solch eine Anweisung bedeutet: Sobald irgendjemand einen Bericht über mich selbst schreibt, würde ich zur unterdrückerischen Person erklärt werden – Rausschmiss aus Scientology, Fairgame inklusive.

Dies war eine Phase, auf die ich wirklich stolz bin. Ich glaube, 95 Prozent der anderen Mitarbeiter hätten den Komplott nicht durchschaut, wären auf dem RPF (eine Art Straflager) gelandet und wären auch noch davon überzeugt, dass es ihre eigene Schuld war. Ich kenne Beispiele, wo Sea-Org-Mitarbeiter derartigen Komplotts tatsächlich zum Opfer fielen.

Es erinnert mich ein bisschen an ein Lied von Nena aus meiner Jugendzeit: Jung wie du. Darin heißt es zu den Vorteilen vom älter werden: „… kennst alle Regeln, alle Tricks, spielst alle an die Wand“. Dieser Punkt war erreicht. :)  

AntjeO  26.05.2022, 07:40

Krass. Solche spielchen passen schon mehr in das zeug, was ich von Scientology gehört habe. Danke für deine spannenden antworten.

3