Was meint Marcus Aurelius in seinen Selbstbetrachtung mit ,,…Verachtung der Wachtelpflege‘‘?

1 Antwort

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Im Text steht das Verb ὀρτυγοτροφεῖν (ortygotrephein), zusammengesetzt aus den Bestandteilen ὄρτυξ (ortyx; Genitiv, in dem der Wortstamm deutlich wird: ὄρτυγος [ortygos] und dem Verb τρέφειν (trephein), das „dick machen“, „füttern“, „(er)nähren“, „aufziehen“, „pflegen“, „halten“ bedeutet; das zugehörige Substantiv τροφή [trophe] „Ernährung“, „Unterhalt“, „Aufziehen“, „Pflege“). Mit „Wachtelpflege“ ist also eine Tierhaltung gemeint, nämlich die Haltung von Wachteln (Wachelhaltung). Der Ausdruck „Verachtung“ kommt nicht wörtlich vor. Es geht darum, sich nicht bestimmten Freizeitbeschäftigungen und damit verbundenen Verhaltensweisen und Leidenschaften hinzugeben. Was Marcus Aurelius ablehnt, ist eine bestimmte Benutzung von Wachteln. Der stoische Philosoph Chrysippos (3. Jahrhundert v. Chr.) hat auf eine Bezeichnung ὀρτυγομανία (ortygomania; Wachtelwahnsinn, Wachtelraserei, Wachtelverrücktheit) hingewiesen, mit der im Wort ein falsches Verhalten ausgedrückt wird (Athenaios, Deipnosophistai [griechisch: Δειπνοσοφισταί; Gelehrtengastmahl; lateinischer Titel: Deipnosophistae] 11, 464 D – E).

Marcus Aurelius möchte sich offenbar keinem rohem, primitiver Schaulust dienendem und zu Wetten genutztem (was bis zu Spielsucht gehen könnte) Zeitvertreib hingeben.

Marcus Aurelius, Ta eis heauton (Τὰ εἰς ἑαυτόν; Selbstbetrachtungen; lateinischer Titel: Ad se ipsum) 1, 6 nennt als das, was er von seinem Lehrer Diognetos (griechisch: Διόγνητος; lateinisch: Diognetus) lernte, das Fernhalten von sinnlosen/eitlen/leeren/nichtigen Bestrebungen, kein Vertrauen in Aberglauben, Ertragen freimütiger Rede, intensive Beschäftigung mit Philosophie und eine einfache Lebenswiese nach griechischer Art.

Die Wachtel (griechisch: ὄρτυξ; lateinisch: coturnix) ist ein Hühnervogel. In der griechische-römischen Antike wurde sie auch als gezähmtes und dressiertes Haustier gehalten. Wachteln wurden zu Wettkampfzwecken benutzt (vgl. Ioulios Polydeukes/Iulius Pollux, Onomastikon [griechisch: Ὀνομαστικόν; Namenssammlung; lateinischer Titel: Onomasticum] 9, 107 – 109):

1) Wachtelklopfen/Wachtelschlagen (ὀρτυγοκοπία [ortygokopia]): In einem aufgezeichneten Kreis befindliche Wachteln wurden auf den Kopf geschlagen oder auf andere Art angegriffen/gequält. Es wurden Wetten abgeschlossen und der Besitzer bekam den Wetteinsatz, wenn seine Wachtel im Kreis blieb (für Griechen belegt).

2) Wachtelkampf: Wachteln wurden (ähnlich wie beim Hahnenkampf) zum Kampf auseinander gehetzt (auch für Römer belegt).

Marcus Antonius und Octavian (Caesars Großneffe Gaius Octavius, der sich nach testamentarischer Adoption Gaius Iulius Caesar nannte, wobei nach gebräuchlicher Benennungsweise der Zusatz Octavianus gefolgt wäre) haben als spielerischen Zeitvertreib unter anderem (neben Ballspiel, Würfelspiel und Hahnenkämpfen) Wachtelkämpfe durchgeführt, wobei aus dem Ergebnis auch Weissagungen zum Schicksal herausgelesen werden konnten.

Plutarch, Große Griechen und Römer. Eingeleitet und übersetzt von Konrat Ziegler und Walter Wuhrmann. Band 5. Zürich ; Stuttgart : Artemis-Verlag, 1960 (Die Bibliothek der alten Welt : Griechische Reihe), S. 332 – 333:

„Nur die Spiele, die sie miteinander trieben, bereiteten Antonius Verdruß, weil er da immer Caesar gegenüber den kürzeren zog. In seinem Gefolge befand sich nämlich ein Seher aus Ägypten, einer von denen, die die Horoskope stellten. Der sprach sich – ob nun Kleopatra zuliebe oder seiner wirklichen Überzeugung gemäß - Antonius gegenüber offen aus und sagte, sein Glück, so groß und glänzend es sei, werde doch von dem Caesars in den Schatten gestellt, und er riet ihm, sich möglichst fern von dem jungen Mann zu halten. »Denn dein Genius« , so fuhr er fort, »fürchtet den Caesars, stolz und hochgemut, wenn er allein ist, wird er verzagt und demütig, wenn jener in die Nähe kommt.« Und tatsächlich schien, was geschah, dem Ägypter recht zu geben, denn es wird berichtet, daß, wenn sie im Scherz um etwas losten – worum es auch ging – oder miteinander würfelten, Antonius jedesmal verlor. Oft auch, wenn sie Hähne gegeneinander kämpfen ließen oder auch dafür abgerichtete Wachteln, siegten immer die Caesars. Darüber ärgerte sich Antonius m stillen, hörte schon mehr auf den Ägypter und verließ Italien, wobei der Caesar die Besorgung seiner häuslichen Angelegenheiten übertrug. Octavia, die ihm inzwischen schon ein Töchterchen geboren hatte, nahm er bis nach Griechenland mit.“

Plutarch, Peri tes Romaion tyches (griechisch: Περὶ τῆς Ῥωμαίων τύχης; Über das Glück der Römer; lateinischer Titel: De fortuna Romanorum) 7 (Ethika [griechisch: Ἠθικά]/Moralia/Schriften zur Ethik 319 f – 320 a)

Plutarch, Auserlesene Moralische Schriften. Aus dem Griechischen [übersetzt von Felix Nüscheler]. Zweyter Band. Zürich : Füeßlin, 1769

S. 260 – 262:

„Und Cleopatra selbst war eine Veranlassung des Glücks des Cäsars; sie war ein Fels, an dem ein so grosser Befehlshaber von unumschränkter Macht anstieß und zertrümmert ward, damit Augustus allein sey.

Man sagt, Antonius und Augustus haben manchmal, weil sie in grosser Vertrautheit lebten und sehr oft beysammen waren, zur Kurzweil allerley Spiele gespielt; Bald mit dem Ball, bald mit Würfeln; ja bisweilen haben sie Gewette mit Thieren, mit Wachteln und Hahnen, vorgenommen: Antonius sey aber jedesmal besiegt von dem Spiel weggegangen. Einer von den Freunden des Antonius, der sich rühmte, das Wahrsagen zu verstehen, soll ihm deswegen oft diese in freymüthige Erinnerung gegeben haben: „Mein lieber Freund, was hast du doch allezeit mit diesem Jüngling zu schaffen? Meide ihn doch. Du übertriffst ihn freylich an Ruhm, an Alter, an ausgebreiteter Herrschaft, an Menge glücklich geführter Kriege und an Erfahrenheit; aber dein Genius fürchtet den seinigen, und dein Glück, das an sich selbst groß ist, schmeichelt doch seinem Glück, und wenn du dich nicht entfernst, so wird es dich verlassen und zu ihm übergehen.„“

Plutarchs moralische Abhandlungen. Aus dem Griechischen übersetzt von Joh. Friedr. Sal. Kaltwasser [Johann Friedrich Salomon Kaltwasser]. Dritter Band. Frankfurt am Mayn [Frankfurt am Main] : Johann Christian Hermann, 1786 (Sammlung der neuesten Übersetzungen der griechischen prosaischen Schriftsteller. Plutarchs Schriften Teil 3), [Vom Glück der Römer] S. 267 – 268:

„Selbst die Kleopatra rechne ich zum Glück des Augustus, an welcher ein so mächtiger Befehlshaber wie an einer Klippe, scheitern und Schiffbruch liefen mußte, damit Augustus der einzige wäre. So erzählt man auch, diese beyde, Antonius und Augustus hätte, als sie noch gute Freunde waren, und einen vertrauten Umgang pflogen, oft zusammen Ballen oder Würfel gespielt, oder auch wohl gar Wettkämpfe mit Thieren, als Wachteln und Hühnern, gehalten, Antonius aber allemal den Kürzeren gezogen. Einer seiner Freunde, der sich auf die Wahrsagerkunst verstand, soll ihm daher öfters die warnende Vorstellung gethan haben: „Freund, was hast du mit diesem Jüngling zu thun? O meide ihn! Du bist berühmter, du bist älter, du hast eine größere Herrschaft, du hast so viele Kriege überstanden, du übertriffst ihn an Erfahrung; aber dein Schutzgeist fürchtet sich demohngeachtet vor dem seinen. Dein Glück, so groß es auch sei, schmeichelt seinem Glück, und wo du dich nicht entfernst, wird es unversehens gar zu ihm übergehen.„“

Christian Hünemörder, Wachtel. In: Der neue Pauly (DNP) : Enzyklopädie der Antike ; Altertum. Herausgegeben von Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Band 12/2: Ven - Z. Nachträge. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2002, Spalte 358:

„Man hielt sie als gezähmte → Haustiere (Aristoph. Pax 789; Plut. Alkibiades 10) und verwendete sie wie Haushähne zu W.-Kämpfen (Plat. Lys. 211e; Aristoph. Av. 1299f.; vgl. Petron. 53), bei denen die Männchen schrien (Aristot. hist. an. 4,9,536a 26 f.; Plin. Nat. 11,268), oder veranstaltete das sog. W.Klopfen aus einem aufgezeichneten Kreis heraus, die ὀρτυγοκοπία/ ortygokopía (Poll. 9,107; […]).“

Aristoph. Pax = Aristophanes, Eirene (griechisch: Εἰρήνη; Der Frieden; lateinischer Titel: Pax)

Plut. = Plutarch (griechisch: Πλούταρχος [Ploutarchos])

W.-Kämpfen = Wachtel-Kämpfen

Plat. Lys. = Platon, Lysis

Aristoph. Av. = Aristophanes, Ornithes (griechisch:Ὄρνιθες, Die Vögel; lateinischer Titel: Aves)

Petron. = Petronius, Satyrica

Aristot. hist. an. = Aristotelesm Historia zoon (griechisch: Ἱστορία ζῴων; Tiergeschichte; lateinischer Titel: Historia animalium)

f. = folgend

Plin. Nat. = Plinius, Naturalis historia

W.Klopfen = Wachtelklopfen

Poll. = Ioulios Polydeukes/Iulius Pollux, Onomastikon (griechisch: Ὀνομαστικόν; Namenssammlung; lateinischer Titel: Onomasticum)

Peter Emberger, Tierquälerei in der griehisch-römischen Antike. In: Antike Lebenswelten : althistorische und papyrologische Studien. Herausgegeben von Renate Lafer und Karl Strobel. Berlin : De Gruyter, 2015 (Altertumswissenschaftliche Studien Klagenfurt ; Band 4), S. 256:

„Neben Papageien wurde auch Wachteln von ihren Besitzern auf den Kopf geschlagen. Dieses Spiel, bei dem im antiken Athen hohe Summen gewettet wurden, nannte sich ortygokopía („Wachtelklopfen“, „Wachtelschlagen“). Dabei setzte man eine Wachtel in einen Kreis und reizte sie durch Schläge auf den Kopf oder riss ihr einige Federn aus. Verharrte die Wachtel dennoch im Kreis, so erhielt ihr Besitzer den Wetteinsatz. Das Wachtelschlagen erfreute sich großer Beliebtheit, so dass Chrysipp bereits von einem „Wachtelwahn“ sprach (griech. ortygomanía). Wie sehr die Wachteln bei diesem Spiel gequält wurden, bezeugt eine Stelle in Quintilians Institutio oratoria (5,9,13). Quintilian berichtet darin von einem Knaben, der einer Wachtel die Augen ausgeschlagen habe. Aufgrund seiner brutalen Vorgehensweise sei er daraufhin von den Areopagiten verurteilt worden. Obgleich diese Verurteilung von besonderer Tierliebe zeugt, ist darin kein antiker Tierschutzgedanke zu sehen. Vielmehr führt Quintilian diesen Fall an, um die Bedeutung von Indizien vor Gericht darzulegen, anhand derer man ein Urteil fällen könne. Die grobe Behandlung der Wachteln sei ein Anzeichen für künftige Gewalttaten, die der Knabe im Erwachsenenalter ausführen könnte. Daher erfolge seine Verurteilung zu Recht.

Daneben erfreuten sich auch Wachtelkämpfe großer Beliebtheit, die sowohl auf öffentlichen Plätzen, aber auch in Palästren oder Gymnasien stattfanden. Plutarch berichtet (mor. 319–320), dass Octavian und Marcus Antonius in ihrer Freizeit oftmals Wachteln gegeneinander kämpfen ließen, um aus dem Ausgang des Kampfes ihr eigenes Schicksal herauszulesen.“

mor. = Ethika (griechisch: Ἠθικά]/Moralia/Schriften zur Ethik)

Marcus Aurelius, Ta eis heauton (Τὰ εἰς ἑαυτόν; Selbstbetrachtungen; lateinischer Titel: Ad se ipsum) 1, 6

Παρὰ Διογνήτου τὸ ἀκενόσπουδον· καὶ τὸ ἀπιστητικὸν τοῖς ὑπὸ τῶν τερατευοµένων καὶ γοήτων περὶ ἐπῳδῶν καὶ περὶ δαιµόνων ἀποποµπῆς καὶ τῶν τοιούτων λεγοµένοις· καὶ τὸ µὴ ὀρτυγοτροφεῖν µηδὲ περὶ τὰ τοιαῦτα ἐπτοῆσθαι· καὶ τὸ ἀνέχεσθαι παρρησίας· καὶ τὸ οἰκειωθῆναι φιλοσοφίᾳ καὶ τὸ ἀκοῦσαι πρῶτον µὲν Βακχείου, εἶτα Τανδάσιδος καὶ Μαρκιανοῦ· καὶ τὸ γράψαι διαλόγους ἐν παιδί· καὶ τὸ σκίµποδος καὶ δορᾶς ἐπιθυµῆσαι καὶ ὅσα τοιαῦτα τῆς Ἑλληνικῆς ἀγωγῆς ἐχόµενα.

Des Kaisers Marcus Aurelius Antoninus Selbstbetrachtungen. Neue Übersetzung mit Einleitung und Anmerkungen von Albert Wittstock. Leipzig : Reclam, 1879 (Philipp Reclams Universalbibliothek ; Nr. 1241. 1242), S. 12 – 13:

„Diognetus flößte mir Haß gegen alle nichtigen Befürchtungen ein und Ungläubigkeit gegenüber den Gauklern, Beschwörern, Wahrsagern und dergleichen, hielt mich von der Wachtelpflege und ähnlichem Aberglauben zurück und lehrte mich das freie Wort dulden und mich ganz der Philosophie ergeben. Er ließ mich erst den Bacchius, dann den Tandasis und Marcianus hören, unterwies mich, als Knabe Dialoge zu schreiben, und bewirkte es, daß ich kein anderes Nachtlager als ein Bretterbett und eine Tierhaut begehrte und was sonst zur Lebensart der griechischen Philosophen gehört.“

Mark Aurel, Selbstbetrachtungen : griechisch – deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel. 2. Auflage. Mannheim : Artemis & Winkler, 2010 (Sammlung Tusculum), S. 7/9:

„Von Diognetos (lernte ich), sinnloses Streben zu vermeiden, dem Gerede der Wundertäter und Zauberer über Beschwörungen, Teufelsaustreibungen und ähnliches nicht zu glauben, keine Wachteln zu halten und keine vergleichbaren Leidenschaften zu haben, ein offenes Wort zu vertragen, ein enges Verhältnis zur Philosophie zu gewinnen und zuerst Bakchios, dann Tandasis und Markian zu hören,schon als Kind Dialoge zu schreiben, ein niedriges Bettgestell und ein Fell zu verlangen und was sonst noch mit der Lebensweise griechischer Philosophie zu tun hat.“

Marc Aurel, Selbstbetrachtungen. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger. Mit einem Begleittext von Helmut Schmidt (†). Ditzingen : Reclam, 2019, S. 10:

„Von Diognetos den Verzicht auf eitles Streben und dem Gerede der Wundertäter und Zauberer über Beschwörungen, Dämonenaustreibungen und dergleichen nicht zu glauben, nicht Wachtelschlagen zu spielen und ähnlichen Leidenschaften nachzugehen, ein offenes Wort zu ertragen, und dass ich mit der Philosophie vertraut wurde, zuerst Bakchios, dann Tandasis und Markian zu hören, schon als Knabe Dialoge zu verfassen und ein Klappbett mit Fell zu verlangen, und was sonst noch der griechischen Lebensweise entspricht.“


mirhat123 
Fragesteller
 20.12.2021, 17:31

Wow, danke

1
mirhat123 
Fragesteller
 20.12.2021, 17:32

Also hat Marcus Aurelius nichts gegen die Tierhaltung als solches gehabt, sondern das Wettspiel etc., oder?

1
Albrecht  20.12.2021, 18:06
@mirhat123

Allgemeine Ablehnung von Tierhaltung ist an der Stelle nicht enthalten, sondern eine Ablehnung von Tierhaltung, die mit würdelosen und zu einer philosophischen Lebensweise unpassenden Verhaltensweisen und Leidenschaften verbunden ist.

1