Schopenhauers Kritik am kategorischen Imperativ?

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Artur Schopenhauer hat einen grundsätzlich anderen Ansatz in der Ethik als Immanuel Kant. Er nimmt keinen Ausgangspunkt bei einem Sollen, er hat die Freiheit des Willens bestritten und er hält die Vernunft für schwächer als den Willen, unter dem er einen blinden, vernunftlosen Drang versteht.

Schopenhauer selbst hat eine Mitleidsethik dargelegt. Schopenhauer hält Mitleid für den zentralen Grundsatz und die Grundlage der Ethik. Grundlage der Mitleidethik ist eine Metaphysik mit pessimistischer Tendenz: Nach Schopenhauer ist die Welt in ihrer Tiefenschicht ein blinder Wille, der als Ding an sich ohne Ziel, Sinn und Grund (ohne Beweggrund) wirkt und jeder Vorstellung zugrundeliegt. Die Individuen seien alle Erscheinungen dieses Willens. Jeder Willensakt sei ein Streben, aber einzelne individuelle Willensakte hätten einen Ursprung, eine Motivation.

Im Mitleid, auf das der Ruf des Gewissens zielt, liegt zwar nach Schopenhauer eine Erkenntnis, aber eine vorrationale, nicht begriffliche, sondern in der Art einer unmittelbaren Anschauung. Schopenhauer meint, in Verstand und Vernunft sei nichts enthalten, was nicht dem Egoismus, der Befriedigung der eigenen Lebens- und Überlebensansprüche dient. Verstand und Vernunft seien Produkte der Hirntätigkeit und könnten nicht in der gewünschten Weise auf die Handlungen des Leibes einwirken, weil sie der Macht der Triebe unterlegen blieben. Weil Moral sich auf das empirische und wirkliche Handeln richte, müsse auch die moralische Triebfeder eine empirische sein.

Die moralisch wertvolle Tat versteht Schopenhauer als Verneinung der Grundtriebfeder Egoismus und Widerspiegelung einer Einsicht, die Trennung zwischen Ich und Du als Täuschung zu erkennen. Die Individuen seien alle Erscheinungen des Willens. Dies werde beim Mitleid durchschaut, der innere Widerstreit und die wesentliche Nichtigkeit des Willens der getrennten Individuen zum Leben erkannt. Die unmittelbare Teilnahme erkenne und empfinde intuitiv im Leidenden sich selbst, sein eigenes Wesen. Die Identifikation mit dem anderen, dessen Wohl und Wehe könne die Macht des Egoismus brechen.

Die Kritik Schopenhauers an Kants kategorischem Imperativ steht vor allem in:

Arthur Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, behandelt in zwei akademischen Preisschriften (2., verbesserte und vermehrte Auflage 1860). Preisschrift über die Grundlage der Moral. II: Kritik des von Kant der Ethik gegebenen Fundaments (§. 4. Von der imperativen Form der Kantischen Ethik §. 5. Von der Annahme von Pflichten gegen uns selbst, insbesondere §. 6. Vom Fundament der Kantischen Ethik §. 7. Vom obersten Grundsatz der Kantischen Ethik §. 8. Von den abgeleiteten Formen des obersten Grundsatzes der Kantischen Ethik)

Hauptkritikpunkte sind:

1) eine fehlerhafte bzw. unzureichende Begründung, nämlich eine petitio principii (Forderung des Beweisgrundes), indem etwas von Beginn als selbstverständlich wahr vorausgesetzt wird und als Beweisgrund verwendet wird, was selbst noch eines Beweises bedarf

2) Mangel an realem Gehalt

3) versteckte hypothetische Beschaffenheit von Kants kategorischem Imperatives, aufgrund derer er auf Egoismus beruht

Schopenhauer ritisiert die vorweg aufgestellte Annahme Kants, in der praktischen Philosophie würden nicht Gesetze von dem, was geschieht angegeben sondern Gesetze von dem, was geschehen soll. Dies sei eine petitio principii (Inanspruchnahme des Beweisgrundes; was zu beweisen ist, wird schon als wahr vorausgesetzt). Er bezweifelt die Annahme es gebe Gesetze, denen sich das menschliche Handeln unterwerfen sollen und wendet sich dagegen, von Anfang an eine legislatorisch-imperative (gesetzgebend-gebietende) Ethik als allein mögliche zugrundezulegen. Philosophische Ethik solle sich damit begnügen, das Gegebene zu erklären und deuten, um zu einem Verständnis davon zu gelangen.

Das einzig nachweisbare Gesetz für den Willen, dem er unterworfen ist, sei das Gesetz der Motivation, eine Form des Kausalgesetzes. Dieses besage, jede Handlung könne nur aufgrund eines zureichenden Motivs eintreten.

Die angeblichen moralischen Gesetze blieben dagegen, wie Kant selbst eingestehe, meistens erfolglos.


Albrecht  16.04.2013, 05:39

Auch der Begriff der Pflicht (wie verwandte Begriffe des Gesetze, des Gebots, des Sollens) könne nicht unbezweifelt als gegeben angenommen werden. Erst eine gültige Beglaubigung aus dem Wesen der menschlichen Natur oder der objektiven Welt zu liefern. Der Bedeutsamkeit menschlichen Handelns sei nicht wesentlich, in der Form des Gebietens und Gehorchens, des Gesetzes und der Pflicht aufgefaßt zu werden. Jedes Sollen sei durch Strafe oder Belohnung bedingt. Ohne diese Bedingungen sie der Begriff sinnlos. Der bei Kant zugrundeliegende Begriff eines unbedingten Sollens sei völlig undenkbar und widersinnig. Das von Kant als Grundlage der Ethik abgelehnte Streben nach Glückseligkeit (die Reinigung der Ethik von einem solchen sei ein großes Verdienst Kants gewesen) Eudämonismus schleiche sich bei ihm verschleiert wieder ein, indem mit dem Postulat der Unsterblichkeit der Seele und eine Gottes, der die Glückseligkeit der aufgrund ihrer Tugend Glückswürdigen gewährleistet, eine Bedingung hineinkommt.

Kant habe die imperative Form der Ethik der theologischen Moral entlehnt, aber zum Ergebnis gemacht, was Prinzip oder Voraussetzung hätte sein müssen, und als Voraussetzung genommen, was als Ergebnis hätte abgeltet werden sollen.

Der eigentliche Kern des Menschen sei der Wille, nicht die Vernunft. Der Mensch suche nicht von selbst nach einem Gesetz für seinen Willen. Die moralische Triebfeder müsse eine sich von selbst ankündigende, daher real wirkende sein und folglich eine empirische sein. Denn die Moral habe es mit dem wirklichen Handeln der Menschen zu tun.

Der kategorische Imperativ schwebe inhaltsleer in der Luft, hab einen völligen Mangel an Realität und dadurch an möglicher Wirksamkeit. Dieser unzulänglichen Grundlage werde auch noch als Voraussetzung die Freiheit des Willens als Last aufgebürdet.

Höchst vernünftig, also überlegt, besonnen, konsequent, planvoll und methodisch könne ein Mensch auch zu Werke gehen, und dabei die eigennützigsten, ungerechtesten und niederträchtigsten Maximen (subjektive Grundsätze des Handelns) befolgen.

Bei der Anweisung zur Auffindung des Moralprinzips, nämlich etwas wollen zu können, entscheide sich der Egoismus für Menschenliebe und Gerechtigkeit. Damit liege stillschweigend eine Bedingung zu Grunde.

Die Formel vom Menschen als Zweck an sich sei darin verdienstvoll, den Unterschied zwischen Egoismus und seinem Gegenteil zu charakterisieren. Sie leiste aber nichts für die Begründung der Moral. Außerdem würden vernunftlose Lebewesen (also Tiere) als Sachen eingeordnet. Die Formel von der Autonomie des Willens sei inhaltsleer. Ein Wille ohne Motiv sei eine Wirkung ohne Ursache.

eine ausführliche Untersuchung zum Thema ist:

Margot Fleischer, Schopenhauer als Kritiker der Kantischen Ethik : eine kritische Dokumentation. 1. Auflage. Würzburg : Königshausen & Neumann, 2003. ISBN 3-8260-2470-2

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