Popper-Marx?

2 Antworten

Popper kritisiert in "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" von 1945 u.a. den Historizismus in Marx´ Lehren:

Geschichte sei hier ein kontinuierlicher, geordneter Prozess, mit festen Regeln. A führt unweigerlich zu B. Aber auch die sog. "Weltverbesserer", welche sich beispielsweise (aber nicht nur!) auf Marx berufen, lehnt Popper ab und klassifiziert sie als ebensolche Feinde der offenen Gesellschaft. Sie beanspruchen für sich, die eine Wahrheit bereits zu besitzen, was sie intolerant machen würde. Die Wahrheit, so Popper, müsse undefiniert bleiben in einer offenen Gesellschaft.

LG

verreisterNutzer  09.07.2022, 14:46

Ok. Danke. Heißt das, das für Popper Geschichte ein kontinuielicher, geordneter Prozess ist mit festen Regeln oder ist das eher für Marx?

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Von Thomas Schmid:

Er war keine 19 Jahre alt, als er einen moralischen Schock erlitt, der ihn vollständig aus der Fassung brachte. „Während einer Demonstration machten junge, unbewaffnete Sozialisten, angespornt von den Kommunisten, den Versuch, einige Kommunisten zu befreien, die in der Wiener Polizeidirektion unter Arrest waren.“ So erinnert sich Karl Popper später, und er fährt fort: „Mehrere junge sozialistische und kommunistische Arbeiter wurden erschossen. Ich war erschüttert: entsetzt über das Vorgehen der Polizei, aber auch empört über mich selbst. Denn es wurde mir klar, dass ich als Marxist einen Teil der Verantwortung für die Tragödie trug – wenigstens im Prinzip.“ Popper stieß spät zu der Demonstration, und er blieb Zuschauer. Welche Verantwortung trägt er dann?
Die Verantwortung der unkritischen Bequemlichkeit. Popper ist von der marxistischen Theorie fasziniert, die die dauernde Verschärfung des Klassenkampfes propagiert und dafür Menschenopfer in Kauf nimmt, ja provoziert. Popper fragt sich: Kann eine solche Theorie zur Verbesserung der Welt beitragen? Und er fragt weiter: Warum konnte ich mich dieser Theorie blind anvertrauen statt sie genau zu prüfen? An diesem Tag, dem 15. Juni 1919, wendet sich der junge Karl Popper für immer vom Marxismus ab. Mit einer Akzentuierung, die er fortan nie mehr aufgibt: Jeder Mensch ist urteilsfähig, also für sein Tun und Denken verantwortlich. Er hat die Begabung zur Freiheit. Nur, wenn er diese nutzt, kann er helfen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
„Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ wird ein gründlich argumentierendes Manifest für die Möglichkeit der Freiheit. Gegen die düstere Lehre des Nationalsozialismus, aber ebenso gegen die scheinbar helle Befreiungslehre des Kommunismus. Die Persönlichkeiten, die im Fokus seiner Kritik stehen, sind aber keineswegs die Diktatoren und Massenmörder Hitler und Stalin, sie werden in dem ganzen Werk kein einziges Mal erwähnt. Sondern die Philosophen und Gesellschaftsdenker Platon, Hegel und Marx. Die große Stärke von Poppers Argumentation besteht darin, dass er – von dem zutiefst verachteten Hegel abgesehen – diese Denker nicht verurteilt, sondern ihre Motive versteht. Hinter Platons Plädoyer für den autoritären Staat, in dem ein Philosophenführer Ordnung schafft und eine angebliche Urordnung wiederherstellt, spürt er Platons Beunruhigung durch die stürmische Zeit der Herausforderungen, die das athenische Gemeinwesen damals erlebte.
Noch größere distanzierte Sympathie empfindet Popper für Karl Marx. Er bewundert die Hartnäckigkeit, mit der dieser auf den Skandal der Arbeiterausbeutung verwies. Er würdigt seine Aufrichtigkeit, seinen Wirklichkeitssinn. Er versteht, dass Marx angesichts eines brutalen Frühkapitalismus die liberale Idee von Wettbewerb und Chancengleichheit verwarf. Doch er hält ihm vor, falsche Schlüsse daraus gezogen zu haben. Die Geschichte, sagt er, ist auch, aber nicht nur eine Geschichte von Klassenkämpfen. Und vor allem: Die Geschichte hat kein Ziel. Auch in Zukunft wird es keinen glücklichen Urzustand geben. Popper schreibt: „Von allen politischen Idealen ist der Wunsch, die Menschen glücklich zu machen, vielleicht der gefährlichste.“ Wir müssen das Unvollkommene akzeptieren. Obwohl, aber auch weil es unvollkommen ist.
Was Marx kategorisch bestreitet, verteidigt Popper mit Leidenschaft: Politik ist möglich. Das Verfahren kann nur die endlose Kette von trial and error, von Versuch und Fehler und erneutem Versuch sein. Die moderne Gesellschaft ist eine abstrakte Gesellschaft, „die dauernd von uns verlangt, vernünftig zu handeln“. Das geht auf Kosten emotionaler Urbedürfnisse. Doch das „ist der Preis für die Humanität.“ Karl Poppers Grunderfahrung: Die Barbarei immer droht, dass man stets mit dem Schlimmsten rechnen muss. Dagegen gibt es nur ein Mittel, das so wirksam wie unvollkommen ist: „In einer Demokratie besitzen wir die Schlüssel zur Kontrolle der Dämonen.“ Es gilt, den Schwachen zu helfen. Wir brauchen Versicherungen, Arbeitszeitregeln, einen politischen Moralkodex und vieles mehr. Wir brauchen einen entschieden tätigen Staat, den die Menschen zugleich aber am Interventionismus hindern müssen. Popper zwingt sich hier zur Nüchternheit und nennt das, was modernen Gesellschaften politisch weiterhilft, Sozialtechnik. Vielleicht ein unglücklicher Begriff. Seinen Gegnern hat es Popper damit gewiss leichtgemacht, ihn als herzlosen Gesellschaftsklempner zu diffamieren. Doch das war der Agnostiker, der hohe Stücke auf das christliche Ideal der Brüderlichkeit hielt und den arroganten Atheismus verachtete, ganz und gar nicht. Er konnte schneidend werden, wenn er auf Intellektuelle traf, die – wie etwa der Sozialist Ernst Bloch – dunkel raunend daherredeten. Aber er war nicht hoffärtig. Sein Erlebnis von 1919 stets im Sinn, bleibt er ein bescheidener Mensch. Die Fehlbarkeit war seine Grunderfahrung.

Siehe: https://schmid.welt.de/2019/09/17/der-mensch-hat-die-begabung-zur-freiheit-karl-poppers-plaedoyer-fuer-die-offene-gesellschaft/