Poetischer Realismus - Theodor Storm, der "Schimmelreiter"

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Der sogenannte „Realismus“ in der deutschen Literatur war nur äußerlich realistisch, indem er  im Gegensatz zur vorgehenden Romantik die realen bürgerlichen und ländlichen Lebensumstände einbezog und sich in seinen Motiven nun auch der groß- und kleinbürgerlichen Arbeitswelt (Kaufleute, Handwerker) widmete.

Als Gegenbewegung zur subjektiven Haltung des Romantikers will der „realistische“ Autor sachlich und objektiv  scheinen.  Diese Literatur ist jedoch immer noch von einem Idealismus beherrscht. Immer noch schwebt über den Lebensumständen unsichtbar eine Idealvorstellung, nach der zu handeln wäre:  Bei Erfüllung wird belohnt, bei Nichterfüllung wird bestraft.  

Erst als durch die Philosophie des  Materialismus dargelegt wurde, dass der Mensch durch Erbanlagen und soziale Umstände gar nicht zu völlig freiem Handeln fähig ist und daher für ein Nichterreichen von Idealen nicht eigenverantwortlich ist, dafür  also weder bestraft noch belohnt werden kann,  wendet sich auch die Darstellung  in der Literatur. Da wird dann bewusst auch die elende Welt der hungernden Arbeiterschaft thematisiert (etwa Gerhart Hauptmann: „Die Weber“).

Da jedoch der Begriff „Realismus“ in der deutschen Literatur bereits besetzt ist,  wird  die folgende nackte und schonungslose Darstellung der Wirklichkeit als „Naturalismus“ bezeichnet. Nur in der deutschen Literaturgeschichte wird diese Unterscheidung der Epochen  getroffen, da in anderen Literaturen der schonungslose Realismus ohne idealistischen Überbau schon früher einsetzte.

In Storms Novelle  wird der Schimmelreiter trotz seines  lange vorbildlichen Handelns schließlich „bestraft“. Hauke Haien  handelt ja beim Bau des neuen Deichs  insgesamt auch aus gewissem Eigennutz, da er durch seinen Landbesitz selber stark von seinem  Deichbau profitiert.

Wesentlich aber ist, dass er den alten Deich trotz seiner Gewissensbisse vernachlässigt und später den rettenden Durchstich „seines“ neuen Deichs, seines Lebenswerks,  verhindert,   die Flut würde ja auch seinen Besitz gefährden. So muss er erleben, dass dann, wie der alte,  vernachlässigte  Deich bricht,  seine Frau und sein Kind durch seine Handlung umkommen.

Zwar gibt es im „poetischen Realismus“ keinen  belohnenden oder bestrafenden „Gott“ mehr, doch mit dem Ausruf  „Herr, Gott, nimm mich, verschon' die anderen!“ ruft der sich selbst richtende  Schimmelreiter dennoch in traditioneller Manier einen solchen Gott an.


Koschutnig  03.04.2011, 11:47

p.s.:   "im Voraus" mit nur 1 R (< vor + aus)  - falls du es wieder einmal benötigst. Du hast dich  ja dankenswerterweise ansonsten der deutschen Orthografie befleißigt. 

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