Krieg in Europa nicht für möglich gehalten?

6 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Ich war einer von denen die einen Krieg in der Ukraine für unmöglich hielten. Ich habe noch bis zum 21.2.22 hier auf gf lange Texte geschrieben warum ich es für unmöglich hielt, dass Putin die Ukraine angreift.

Es war nicht so beabsichtigt, aber meine Argumente haben sich eher zu einer Vorhersage gewandelt. Um die Schlussfolgerung vorwegzunehmen: Ich dachte wenn ich, ein zufälliger Typ im Internet diese negativen und unausweichlichen Folgen für Russland sehen kann, wird Putin mit seinem Beraterstab das doch sehen. Er wäre doch nicht so dämlich es nicht zu sehen und sehenden Auges in diese Katastrophe zu laufen.

Hier mein Link zu meiner letzten "Vorhersage", wobei ich in den Tagen vor dem Krieg diese hier fast täglich abgegeben hatte.

https://www.gutefrage.net/frage/wird-es-bald-einen-krieg-geben-in-europa#answer-441648472

Rückblickend habe ich einige Dinge über Russland und Putin nicht gewusst die ich inzwischen gelernt habe die meine Meinung damals verändert hätten. Doch mit meinem Wissen von damals hielt ich diesen Krieg für höchst unwahrscheinlich.

Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, hier meine Gründe warum ich glaubte Putin würde nicht in den Krieg ziehen:

  • Russland verliert Sämtliche Handelspartner im Westen

Ist eingetreten. Ich sagte dort auch, dass Russland auf Jahrzehnte internationale Paria wird.

  • Russland ist diplomatisch isoliert

duh.

  • Die Presse wird schrecklich sein

Russland hat den Informationskrieg sowas von verloren.

  • Die ohnehin schwache Währung geht den Bach runter

Hier hat sich die Chefin der russischen Zentralbank als sehr findig erwiesen. Der Rubel ist auf dem Papier im Moment sogar stärker als vor der Invasion, das wird aber nicht anhalten und spiegelt nicht die Realität wider.

  • Die Ukrainer kämpfen besser als erwartet

Damals habe ich es schon vorhergesagt, dass die Ukrainer möglicherweise besser kämpfen! Dass dies ein Risiko ist, das Putin nicht eingehen kann. Ich habe nicht erwartet wie gut sie kämpfen werden.

  • Aufstände von russischen Müttern

Beginnen bereits.

  • Rebellionen und Separatisten

Aktuell brennen in Russland täglich militärische Einrichtungen und Regierungsreinrichtungen. Separatisten bringen sich in Stellung. Und nicht nur die machen sich bereit für den kommenden russischen Bürgerkrieg.

  • Aufstände ihrer armen Bevölkerung

Hier meine erste eindeutige Fehleinschätzung. Es gibt keine Aufstände und wird keine geben. Die arme Bevölkerung in Russland ist zu sehr von der Propaganda eingelullt und zu sehr politisch unterdrückt.

  • Aufstände ihrer reichen Bevölkerung

Bleibt abzuwarten.

  • Eine militärische Beteiligung des Westens

Wir liefern ja alles mögliche.

  • Ein Zusammenrücken seiner Feinde

Hier hat Putin es geschafft die EU, die NATO und die USA sowohl miteinander als auch mit sich selbst zu versöhnen. Schweden und Finnland werden der NATO beitreten, sogar in der Schweiz und Österreich gibt es öffentlich Debatten darüber. Putin hat sich unabsichtlich zum größten Einiger der EU und der NATO gemacht. Er hat auch den Anti-Amerikanismus bekämpft wie niemand vor ihm. Den meisten Amerika-Hassern wird klar, dass amerikanischer Imperialismus um Meilen besser ist als russischer Imperialismus.

  • Ich sagte voraus, dass Russland einen Tabubruch begeht

Und sie werden dafür auf Jahrzehnte zahlen.

Mein größter Fehler war, Putin als rationalen und intelligenten Akteur zu sehen. Das ist er offenbar nicht.

Was habe ich zum Beispiel nicht vorhergesagt:

  • Die Kriegsverbrechen der Russen

Vor dem Krieg hatte ich nicht geglaubt, dass die Russen sich wie Tiere aufführen würden. Inzwischen habe ich viel über die russische Armee gelernt das ich auch vorher hätte wissen können und nun ist mir klar, dass eine russische Armee gar nicht anders könnte. Der einzige Weg schwere Kriegsverbrechen zu verhindern wäre gewesen die Ukraine tatsächlich innerhalb von 3 Tagen einzunehmen. Doch russische Soldaten die benutzt werden um feindliche Gebiete zu besetzen werden plündern, morden und vergewaltigen. Immer.

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Warum glaubte ich also an das Ausbleiben von Kriegen in Europa?

Weil dies dem historischen Langzeittrend zuwider läuft. So schlimm Kriege und Konflikte nach dem 2. Weltkrieg waren, war dies bis zum Beginn des Überfalls Russlands auf die Ukraine die friedlichste Zeit der Menschheitsgeschichte. Noch nie in der Geschichte starben in Relation zur Bevölkerung so wenige Menschen im Krieg wie in der Zeit nach 1945 und diese Zahl fiel weiterhin ab.

Und all das gilt nicht nur für Europa sondern global betrachtet.

Seit 2012 hatte es keinen Krieg mehr gegeben in denen zwei unabhängige Länder gegeneinander Krieg geführt hatten. Alle Kriege waren hybride Kriege, Aufstände, Rebellionen. Nach den Regeln des 19. Jahrhunderts gab es zwischen 2012 und 2022 Weltfrieden.

Und seit 1945 hatte es keinen Krieg mehr gegeben wie den den Russland gerade gegen die Ukraine führt. Entwickelte Staaten die kleinere Staaten angreifen um ihr Territorium zu erobern- sowas gab es einfach nicht mehr. Nicht nur in Europa nicht, in der ganzen Welt. Es sah so aus als ob das Zeitalter der Kriege vorbei wäre und es gab dafür zahlreiche Hinweise.

Auch viele andere Indikationen wiesen auf eine bessere, friedlichere Welt hin: Die Bildung stieg weiter, immer weniger Menschen hungerten, immer weniger Menschen lebten in extremer Armut, immer mehr Menschen hatten Zugang zu Trinkwasser, Elektrizität, Informationen, Schulbildung usw.

Wenn dieser Trend jetzt gebrochen wird, dann als Folge der Hungersnot und Armut die Putin der Welt auferlegt.

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Und ehrlich gesagt bin ich noch nicht bereit das Ende dieser friedlichen Zukunft einzugestehen. Wenn Russland diesen Krieg verliert, wird dies der ganzen Welt und allen Diktatoren zeigen, dass im 21. Jahrhundert Kriege ungewinnbar geworden sind. Dass der Westen sich nicht im Niedergang befindet, dass wir nicht gelangweilt zusehen wie die Weltordnung zerstört wird die wir nach 1945 aufgebaut haben und dem übergroßen Teil der Menschheit Frieden gebracht hat.

Im Moment entscheidet sich das Schicksal des 21. Jahrhunderts. Wenn Russland gewinnt wird dies der Anfang eines neuen blutigen Jahrhunderts werden. Es würde bedeuten, dass Gewalt wieder ein probates Mittel der Machtausdehnung ist. Kleine Staaten würden wieder vor ihren mächtigeren Nachbarn zittern und die ganze Welt würde aufrüsten. Der russische Krieg gegen die Ukraine könnte die Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts werden.

Die Menschen bringen einander seit 30'000 Generationen gegenseitig um. Rückblickend betrachtet könnte dieser Krieg in hundert Jahren auch ganz anders aussehen: Als eine historische Ausnahme, ein letzter Versuch in der Menschheitsgeschichte Macht durch Krieg auszudehnen.

Nicht weniger steht im Moment in der Ukraine auf der Kippe: Die Wahl zwischen einer friedlichen Zukunftsordnung und einem neuen Jahrhundert der Kriege.

Jeder sollte sich fragen auf welcher Seite der Geschichte er stehen möchte.

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 - (Politik, Krieg, Russland)

filmfan69 
Fragesteller
 30.05.2022, 18:11

Danke für deine sehr umfangreichen Ausführungen dazu, von denen mir vieles sehr sympatisch vorkommt. An ein paar Punkten habe ich leicht andere Sicht auf die Dinge. Wir haben ja in der jüngeren Vergangenheit eine ganze Menge sehr brutaler Kriege erlebt (Irak 2003, Syrien seit 2012, Ost-Kongo und Ruanda seit ich weiß nicht wie lange, West-Kamerun seit 2017, Myanmar seit ). Gerade für die USA sind ja Kriege eigentlich immer ein relativ gewöhnliches Mittel der politischen Auseinandersetzung gewesen (du erwähntest ja die Stellvertreterkriege). Insgesamt denke ich, Zivilgesellschaft muss sich immer wieder neu Räume für Frieden und Gestaltung erkämpfen, die auch wieder genommen werden können.

Ich stimme in der Tat mit dir überein, dass Putin sehr irrational gehandelt hat bei dem Krieg und massiv gegen seine eigene Interessen. Allein, das hat in der Geschichte ja selten Aggressoren von ihrer Aggression abgehalten. Das war ja bei vielen so.

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Oppulus  31.05.2022, 08:57
@filmfan69
 Wir haben ja in der jüngeren Vergangenheit eine ganze Menge sehr brutaler Kriege erlebt (Irak 2003, Syrien seit 2012, Ost-Kongo und Ruanda seit ich weiß nicht wie lange, West-Kamerun seit 2017, Myanmar seit ).

Hier sind ein paar wichtige Punkte die diese Kriege von Putins Krieg unterscheiden.

Der Irakkrieg war kein Krieg in dem die USA den Irak erobern wollten. In keinem Krieg der USA bestand je der Verdacht, dass sie den Irak zu einem neuen Bundesstaat machen könnten. Dazu war das brutale im Irakkrieg nicht die amerikanischen Soldaten welche die Zivilbevölkerung ausgeplündert, ermordet und vergewaltigt hätten (solche Dinge sind in seltenen Ausnahmen vorgekommen). Im Irakkrieg starben Menschen vor allem in dem aus der Übernahme erfolgten Chaos. Das soll diesen Krieg nicht verteidigen, ich will das nur klarstellen.

Syrien, Kongo, Ruanda, West-Kamerun... Keiner dieser Kriege ist ein Inter-Staatenkrieg bei dem ein UN-Mitglied ein anderes angreift mit der Absicht sein Gebiet zu erobern. Wie gesagt das ist fast nie passiert seit 1945.

Was haben all diese Kriege gemeinsam? Russland befeuert und unterstützt diese Kriege. Auch um Flüchtlingsdruck aufzubauen der Europa schadet.

Russland ist eine der größten Quellen für Krieg und Unfrieden in unserer Zeit.

Ich habe nochmal drüber nachgedacht und mir fielen doch ein paar versuchte Beispiele von Annexionen nach 1945 ein: Der Erste Golfkrieg und zweite Golfkrieg durch den Irak (beide gescheitert), China mit Taiwan (1951) und es gibt noch ein paar. Fast alle liegen im Kalten Krieg und haben etwas damit zu tun. Und es waren fast immer 3.-Weltstaaten die andere 3.-Weltstaaten angriffen. Vor dem 2. Weltkrieg waren Annexionen vor allem etwas das die entwickelten Staaten an kleinen Staaten vollzogen. Sowas machen entwickelte und zivilisierte Staaten einfach nicht mehr. Und ich hielt Russland für einen entwickelten, zivilisierten Staat. Hab mich wohl geirrt.

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Mir ist noch ein anderer Aspekt eingefallen der dazu führte, dass ich das Zeitalter der Kriege für beendet sah. Bestimmte historische Entwicklungen die ich schon oben skizziert habe:

Die Bildung steigt in der ganzen Welt. Und dann gibt es ein Muster das man beobachten kann: Erst steigt die Bildung von Jungen, dann mit einem Zeitversatz die von Mädchen, dadurch werden Frauen emanzipierter, die Geburtenrate sinkt, die gesamte Bevölkerung wird emanzipierter und selbstbewusster, es kommt häufig zu einer Übergangskrise (vgl. z.B. E. Todd) die schließlich in eine Demokratie mündet. Und Demokratien führen gegeneinander keine Kriege. Noch nie haben zwei moderne Demokratien gegeneinander Krieg geführt. Es mag irgendwelche esoterischen Ausnahmen geben die mir gerade nicht einfallen aber ich glaube die Ukraine ist die erste moderne Demokratie seit 1945 die von ihren Nachbarn angegriffen wurde. Normalerweise ist Demokratie aus mannigfaltigen Gründen ein Garant für Frieden.

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Ich denke der maßgebende Grund dafür, dass es in Europa keine Kriege mehr gab, ist zum einen natürlich die "Verpflichtung" der Europäischen Nationen durch die Siegermächte des 2. WK in Kooperation zu handeln, bis hin zur Europäischen Union. Zum anderen ganz einfach: "Atombomben" ;)

Seit die USA und Russland sich gegenseitig damit aufgerüstet haben, gab es keinen offenen Krieg mehr, sondern nur noch Stellvertreterkriege, welche dann eben in Afrika oder dem Nahen Osten ausgetragen wurden.

Man muss bedenken das Kriege vorher ein relativ legitimes Mittel der ganz normalen Außenpolitik von Nationen gewesen sind ;) Zu der Zeit gab es auch noch das Amt des Kriegsministers, heute nur noch Verteidigungsminister.

Die Atombombe hat das hauptsächlich beendet. Auch der wirtschaftliche Handel durch die zunehmende Globalisierung, begünstigt durch die Dominanz der USA: https://de.wikipedia.org/wiki/Pax_Americana


filmfan69 
Fragesteller
 30.05.2022, 17:15

Danke. Was sagst du zu meiner Frage, kannst du es nachvollziehen, wenn Leute sagen: Krieg in Europa hätte ich nicht für möglich gehalten?

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II99II  30.05.2022, 18:24
@filmfan69

Konventionellen Krieg, bei dem es um Raumgewinnung geht, hätte ich mir in dieser Form tatsächlich auch nicht mehr vorstellen können...

Ich hätte eher mit Bürgerkriegsszenarien gerechnet, bei denen man versucht die Gesellschaft eines Landes soweit zu spalten, dass sie aufeinander losgehen. Dafür hab es ja mit der Flüchtlingskrise 2015, dem Aufstieg und Finanzierung rechtskonservativer Parteien in Europa und zuletzt den Protesten der Corona-Pandemie schon einige Anzeichen (Sturm auf den Reichstag, etc.).

Jetzt kommt noch Inflation und Energiepreiskrise oben drauf.

Die EZB muss mit Zinserhöhungen reagieren, was ein riesiges Problem für einen Großteil der verschuldeten EU-Mitgliedsstaaten werden könnte, die Hals über Kopf in nicht rückzahlbaren Krediten stecken. Im Extrem vllt. zum Zerfall der EU führen? Es wäre nicht weit hergeholt, dass das auch ein Ziel von Putin sein könnte.

Aber nein. Das Kolonen von Panzern in ein europäisches Land einfahren, während die EU noch in Takt ist, hätte ich nicht gedacht.

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Bisher haben die EU Länder auch Frieden gehalten ihre Länder geschützt aber jetzt nicht mehr.Wegen der Ukaine.

........ ist doch eher ein Grund zu außerordentlicher Dankbarkeit

Bei wem willst du dich bedanken? Wenn ich so etwas lese, dann wird mir übel! Vielleicht willst du dich bei den Maskenbetrügern oder bei den Waffenlieferanten bedanken, dass sie so lange gewartet haben, bis sie wieder zugeschlagen haben!

Weißt du, wie viele Nullen 100 Milliarden haben? Wahrscheinlich bist du Frau von der Leyen dankbar, dass sie das Deck des Holzschiffes für 120 Millionen reparieren ließ.


filmfan69 
Fragesteller
 30.05.2022, 17:17

Sorry, ich verstehe nicht ansatzweise, ob du mir mit diesem Kommentar etwas sagen willst und wenn ja, was. Wenn du magst, erklär dich gerne.

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Streng genommen ist nur der Westen der Ukraine in Europa. Aber man sagt es so. Genauso unmöglich wie Tschernobyl war. Auch ein Atomschlag. Unsere Politiker reden viel zu viel (außer mit Russen).


filmfan69 
Fragesteller
 30.05.2022, 18:25

Danke für den Beitrag, auch wenn ich nicht wirklich einen Bezug zu meiner Frage darin sehe.....

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