Kann einer von euch das folgende Zitat von Mill interpretieren : "Es ist besser ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufrieden gestelltes Schwein"?

3 Antworten

Das Zitat ist ja etwas umfangreicher:

„Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein, als ein zufrieden gestelltes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufrieden gestellter Narr. Und wenn der Narr oder das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb, weil sie nur die eine Seite der Angelegenheit kenne.“ (John Stuart Mill)

Im zweiten Teil wird deutlicher, worauf Mill hinaus will. Zugrunde liegt die Vorstellung des Aristoteles, was ein sittlich guter Mensch ist: Einer der seiner Bestimmung als geistbegabtes Wesen in seiner Lebensführung nahe kommt. Der Mensch sollte nicht wie Schweine oder Narren nur mit der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse - so wichtig das ist - zufrieden sein. Für Mill als Utilitaristen ist die Gestaltung des Lebens, die Mitgestaltung der Gesellschaft ein wichtiges Ziel. Das sollte man auch im historischen Umfeld sehen: Zu Mills Zeit war in England gerade die bürgerliche Revolution erfolgreich und es galt, die alten "göttlichen" Werte des Feudalismus und des Klerus abzulösen durch innerweltlich, rein zwischenmenschlich begründete Werte. Das war das Hauptbestreben des Utilitarismus - das Herausfiltern von neuen Werten und Orientierungen, die nicht im Religiösen begründet waren. Man war sich darüber im Klaren, dass es immer einen Konflikt gibt zwischen individuellen Zielen und Zielen der Gemeinschaft. Man war mit Aristoteles der Meinung, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist und nicht als reines Individuum überleben könne. Darum ging es im Utilitarismus um ein Gleichgewicht, die Interessen des Individuums gegen die berechtigten Interessen der Gemeinschaft abzuwägen. Mit dieser Problematik war Mill befasst und wer nur mit der Erfüllung einfacher Grundbedürfnisse zufrieden ist, ist dabei keine Hilfe.

Ein Mensch ist nach der Auffassung von John Stuart Mill zu mehr Glück als ein Schwein fähig, weil er die Möglichkeit zu Freuden höherer Qualität hat. Daher ist sogar das Leben eines unzufriedenen Menschen, der qualitativ hohe Freuden erreicht, nach dem vom Utilitarismus in der Ethik vertretenen Nützlichkeitsprinzip, dem Leben eines zufriedenen Schweins, das ja keinen qualitativ so hohen Freuden erreicht, vorzuziehen.

Das Zitat kann also im Zusammenhang mit der Darlegung einer bestimmten ethischen Theorie, des Utilitarismus, durch John Stuart Mill (1806 – 1873) verstanden werden.

John Stuart Mill, Utilitarianism (1861), Chapter 2: What utilitarianism is. (2. Kapitel: Was heißt Utilitarismus?):

„Whoever supposes that this preference takes place at a sacrifice of happiness- that the superior being, in anything like equal circumstances, is not happier than the inferior- confounds the two very different ideas, of happiness, and content. It is indisputable that the being whose capacities of enjoyment are low, has the greatest chance of having them fully satisfied; and a highly endowed being will always feel that any happiness which he can look for, as the world is constituted, is imperfect. But he can learn to bear its imperfections, if they are at all bearable; and they will not make him envy the being who is indeed unconscious of the imperfections, but only because he feels not at all the good which those imperfections qualify. It is better to be a human being dissatisfied than a pig satisfied; better to be Socrates dissatisfied than a fool satisfied. And if the fool, or the pig, are of a different opinion, it is because they only know their own side of the question. The other party to the comparison knows both sides.“

John Stuart Mill, Der Utilitarismus. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Dieter Birnbacher. Durchgesehene Ausgabe. Stuttgart : Reclam, 1985 (Universal-Bibliothek ; Nr. 9821), S. 17 – 18:  

„Wer meint, daß diese Bevorzugung des Höheren ein Opfer an Glück bedeutet – daß das höhere Wesen unter den gleichen Umständen nicht glücklicher sein können als das niedrigere - , vermengt die zwei durchaus verschiedenen Begriffe des Glücks [happiness] und der Zufriedenheit [content]. Es ist unbestreitbar, daß ein Wesen mit geringerer Fähigkeit zum Genuß die besten Aussichten hat, voll zufriedengestellt zu werden; während ein Wesen von höheren Fähigkeiten stets das Gefühl haben kann, daß alles Glück, das es von der Welt, wie sie beschaffen ist, erwarten kann, unvollkommen ist. Aber wenn diese Unvollkommenheiten überhaupt nur erträglich sind, kann es lernen, mit ihnen zu leben, statt die anderen zu beneiden, denen diese Unvollkommenheiten nur deshalb nicht bewußt sind, weil sie sich von den Vollkommenheiten keine Vorstellung machen können, mit denen diese verglichen werden. Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr oder das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb, weil sie nur die eine Seite der Angelegenheit kennen. Die andere Partei hingegen kennt beide Seiten.“

Der Gedanke bei Mill ist: Ein Schwein hat nicht so hohe Begabungen und große Fähigkeiten wie ein Mensch, ist daher auch nicht so anspruchsvoll und leichter zufriedenzustellen als ein Mensch. Ein Mensch ist zu mehr Glück als ein Schwein fähig, er hat die Möglichkeit zu Freuden höherer Qualität, daher ist sein Leben vorzuziehen, auch wenn nicht volle Zufriedenheit erreicht wird (es ist bessser, ein unzufriedener Mensch zu sein). Ein Mensch ist zu einem Leben in der Lage, das in qualitativer Hinsicht reicher an Lust/Freude ist als das Leben eines Schweines.

Nach Auffassung von Mill können Menschen nicht nur Freuden der bloßen Sinnlicheit erleben, sondern auch Freuden des Verstandes, der Empfindung, der Vorstellungskraft und des sittlichen Gefühls.

Eine Handlung ist nach Mill moralisch richtig, wenn sie das Glück fördert/vermehrt (die Tendenz dazu hat, also in diese Richtung geht) und falsch, wenn sie in der Summe ihrer Folgen Unglück hervorruft. Unter Glück (happiness) versteht Mill Lust/Freude (pleasure) und das Fehlen von Schmerz/Unlust/Leid (pain), unter Unglück das Gegenteil. Angenehme Empfindungen sind der Ursprung von Werten. Maßstab ist das Urteil derer, die mit den Freuden bzw. Schmerzen Erfahrung haben.

Mill unternimmt eine zusätzliche Einführung qualitativer Unterschiede in den Utilitarismus: Nicht nur quantitative Unterschiede (Menge/Ausmaß des Glücks/der Lust/derFreude) können in der Beurteilung eine Rolle spielen, sondern auch qualitative Unterschiede (die Beschaffenheit), wobei bestimmte Arten von Glück/Lust/Freude als wünschenswerter und wertvoller beurteilt werden.

John Stuart Mill, Utilitarianism (1861), Chapter 2: What utilitarianism is. (2. Kapitel: Was heißt Utilitarismus?):  

„If I am asked what I mean by difference of quality in pleasures, or what makes one pleasure more valuable than another, merely as a pleasure, except its being greater in amount, there is but one possible answer. Of two pleasures, if there be one to which all or almost all who have experience of both give a decided preference, irrespective of any feeling of moral obligation to prefer it, that is the more desirable pleasure. If one of the two is, by those who are competently acquainted with both, placed so far above the other that they prefer it, even though knowing it to be attended with a greater amount of discontent, and would not resign it for any quantity of the other pleasure which their nature is capable of, we are justified in ascribing to the preferred enjoyment a superiority in quality so far outweighing quantity as to render it, in comparison, of small account.“

John Stuart Mill, Der Utilitarismus. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Dieter Birnbacher. Durchgesehene Ausgabe. Stuttgart : Reclam, 1985 (Universal-Bibliothek ; Nr. 9821), S. 15 – 16: „Fragt man mich nun, was ich meine, wenn ich von der unterschiedlichen Qualität von Freuden spreche, und was eine Freude – bloß als Freude, unabhängig von ihrem größeren Betrag – wertvoller als eine andere macht, so gibt es nur eine mögliche Antwort. Von zwei Freuden ist diejenige wünschenswerter, die von allen oder nahezu allen, die beide erfahren haben - ungeachtet des Gefühls, eine von beiden aus moralischen Gründen vorziehen zu müssen - entschieden bevorzugt wird. Wird die eine von zwei Freuden von denen, die beide kennen und beurteilen können, so weit über die andere gestellt, daß sie sie auch dann noch so viele andere Freuden, die sie erfahren könnten, nicht eintauschen möchten, sind wir berechtigt, jener Freude eine höhere Qualität zuzuschreiben, die die Quantität so weit übertrifft, daß diese im Vergleich nur gering ins Gewicht fällt.“

Bei der Bevorzugung einer Freude mit höherwertiger Qualität ist unter dem Gesichtspunkt von (eigener) Zufriedenheit oder Unzufriedenheit die Unterscheidung der Begriffe »Glück« und »Zufriedenheit« zu berücksichtigen, die Mill vornimmt.

Höher begabte und mit größeren Fähigkeiten ausgestattete Wesen sind anspruchsvoller und verlangen mehr, um sich völlig glücklich zu fühlen. Sie sind zu mehr Glück fähig und können trotzdem insofern unzufrieden sein, als sie nach mehr streben und immer das Gefühl haben, von der Welt nur ein unvollkommenes Glück erwarten zu können. Zufriedenheit und Glück sind verschiedene Begriffe. Ein Wesen mit großen Fähigkeiten zum Genießen ist weniger leicht voll zufriedengestellt. Trotzdem ist dieses Streben nach Ausschöpfung in der Entfaltung der Fähigkeiten für sie nach Mills Urteil die bessere Daseinsweise.

John Stuart Mill, Utilitarianism (1861), Chapter 2: What utilitarianism is. (2. Kapitel: Was heißt Utilitarismus?): „A being of higher faculties requires more to make him happy, is capable probably of more acute suffering, and certainly accessible to it at more points, than one of an inferior type; but in spite of these liabilities, he can never really wish to sink into what he feels to be a lower grade of existence. We may give what explanation we please of this unwillingness; we may attribute it to pride, a name which is given indiscriminately to some of the most and to some of the least estimable feelings of which mankind are capable: we may refer it to the love of liberty and personal independence, an appeal to which was with the Stoics one of the most effective means for the inculcation of it; to the love of power, or to the love of excitement, both of which do really enter into and contribute to it: but its most appropriate appellation is a sense of dignity, which all human beings possess in one form or other, and in some, though by no means in exact, proportion to their higher faculties, and which is so essential a part of the happiness of those in whom it is strong, that nothing which conflicts with it could be, otherwise than momentarily, an object of desire to them.“

John Stuart Mill, Der Utilitarismus. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Dieter Birnbacher. Durchgesehene Ausgabe. Stuttgart : Reclam, 1985 (Universal-Bibliothek ; Nr. 9821), S. 17:  

„Ein höher begabtes Wesen verlangt mehr zu seinem Glück, ist wohl auch zu größeren Leiden fähig und ihm sicherlich in höherem Maße ausgesetzt als ein niedrigeres Wesen; aber trotz dieser Gefährdungen wird es niemals in jene Daseinsform absinken wollen, die es als niedriger empfindet. Wir mögen dieses Widerstreben erklären, wie wir wollen: wir mögen es dem Stolz zuschreiben – einem Begriff, mit dem man einige der am meisten und einige der am wenigsten schätzenswerten Gefühle, deren die Menschen fähig sind, bezeichnet; wir mögen es der Freiheitsliebe und dem Streben nach Unabhängigkeit zuschreiben, woran die Stoiker appelliert und worin sie eines der wirksamsten Mittel gefunden haben, die Menschen zu diesem Widerstreben zu erziehen; der Liebe zur Macht und zur begeisterten Erregtheit, die beide darin enthalten sind. aber am zutreffendsten wird es als ein Gefühl der Würde beschrieben, das allen Menschen in der einen oder anderen Weise zu eigen ist und das für die, bei denen es besonders stark ausgeprägt ist, einen so entscheidenden Teil ihres Glücks ausmacht, daß sie nichts, was mit ihm unvereinbar ist, länger als nur einen Augenblick lang zu begehren imstande sind.“

Es geht darum, dass ein Mensch viel mehr Facetten aufweist wie das Bewusstsein, weshalb man, auch wenn man unzufrieden ist, nicht zu einem Tier werden will, der diese Facetten nicht besitzt, aber zufrieden ist.

Es ist wie in der Matrix. Will man zufrieden sein, aber nicht wissen, dass man in einer Matrix lebt oder will man wissen, dass man in einer Matrix ist und lieber außerhalb der Matrix leben, obwohl es dort schrecklicher ist?


Xehps2 
Fragesteller
 23.02.2018, 21:00

Ok vielen Dank, ich bin etwas schlauer als vorher und das Beispiel zum Film Matrix ist echt gut.

Leider habe ich es immer noch nicht zu 100 % verstanden. Der Utilitarismus sagt ja, dass man immer so handeln soll, dass man die größtmögliche Freude beschert, aber Mill unterscheidet hier Qualität von Quantität und verweist auf die Wertigkeit einer Freude. Kannst du das im Bezug auf das Zitat erkären ?

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BlaBla1211  24.02.2018, 05:27

Die Freude eines Tieres wie der des Schweins ist einfacher gestrickt, also sie lässt sich schnell erreichen indem das Verlangen des "tierischen" Triebes erfüllt wird. Beim Menschen hingegen ist die Freude komplexer. Sie lässt sich nicht so leicht einstellen und entsteht nicht nur durch das stillen der Triebe, sondern es ist vielschichtiger z.B. können Menschen Freude an Kunst empfinden, während Tiere das nicht können, zumindest in dem Maßen in der es Menschen können. Ich denke, deshalb ist Mill der Meinung, dass die Freude des Menschen qualitativ hochwertiger ist als die des Tieres.

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