Ist hier ein Potentialis enthalten?
Quid si praecipiam ne fuscet inertia dentes
2 Antworten
Ohne Kontext wird das wieder nichts:
Sed non Caucasea doceo de rupe puellas,
Quaeque bibant undas, Myse Caice, tuas
Quid si praecipiam ne fuscet inertia dentes
Oraque suscepta mane laventur aqua?
Aber ich belehre hier nicht Mädchen aus dem Kaukasus-Gebirge
oder solche, die deine Wellen trinken, oh mysischer Caicus.
Was soll ich euch ermahnen, daß nicht Untätigkeit die Zähne schwärzt
und daß ihr den Mund morgens mit frischem Wasser wascht?
Über den ersten Satz haben wir ja schon gestern geredet: Natürlich weiß Ovid, daß auch römische Mädels mitunter riechen wie überkochter Kohl, aber er will ihnen seine Ratschläge freundlich verpacken. In der zweiten Zeile geht es um dasselbe: Der Caicus (heute Bakırçay) ist ein Fluß an der türkischen Ägäis-Küste nahe Pergamon, also vermutlich auch ein Symbol von abgelegener Gegend: Wer in Mysien lebt, ist ein “hillbilly” und braucht dringend Belehrungen, die man Römerinnen natürlich nur der Vollständigkeit halber gibt (hehe).
In der dritten Zeile halte ich das si für ein Adverb, das nicht viel heißt. Das ganze ist eine mit quid eingeleitete Frage, und kein Konditionalsatz; den Konjunktiv würde ich als dubitativus oder so etwas Ähnliches einschätzen. Unter den vielen Bedeutungen von incipĕre habe ich eine ausgewählt, aber es kommen vielleicht auch andere in Frage. Bei Vokabeln bin ich wirklich schlecht.
In der letzte Zeile beißt mich mein mausiges Vokabelwissen ironischerweise bei einem verwandten Verb, suscipĕre.Das heißt alles Mögliche, aber ‘erhalten’ ist eine Hauptbedeutung, und und ich weiß nicht so recht, was erhaltenes Wasser sein soll. Vielleicht meint er damit, daß es zu diesem Zweck erhaltenes, frisches Wasser sein soll, nicht abgestandenes, in dem schon das Geschirr vom Vortag abgewaschen wurde. Deshalb habe ich mich für frisch entschieden, aber ehrlich gesagt ist das pure Verzweiflung. Mane ist ein komisches Wort, das einfach ‘am Morgen’ heißt, und ora kommt natürlich von ōs, ōris ‘Mund, Gesicht’; den Pl habe ich als Sg wiedergegeben.
Der Konjunktiv "praecipiam" in Ihrem Satz "Quid si praecipiam ne fuscet inertia dentes" kann sowohl als Konjunktiv Präsens als auch als Futur I verstanden werden. Die genaue Zeitform hängt oft vom Kontext ab, und beides wäre hier grammatikalisch korrekt. Mir scheint jedoch in diesem Fall ein Konjunktiv Präsens vorzuliegen, der meiner Meinung nach mehr Sinn macht.
Ja, der Konjunktiv Präsens kann oft als sogenannter "Potentialis" übersetzt werden. Der Konjunktiv Präsens wird in solchen Fällen verwendet, um eine Möglichkeit, eine Fähigkeit, eine Wahrscheinlichkeit oder eine Hypothese auszudrücken. In diesem Kontext drückt er die Möglichkeit oder das Potenzial einer Handlung aus. Wenn also in einem Satz der Konjunktiv Präsens verwendet wird, kann dies darauf hinweisen, dass etwas möglich oder wahrscheinlich ist.
Kann der Konjunktiv Präsens als Potentialis übersetzt werden?