In Diskussionen über das Alevitentum und dessen Geschichte werden besonders in den vergangenen Jahrzehnten Bestrebungen wahrgenommen, die Aleviten als Bestandteil der (neuzeitlichen) Schiiten oder als eine Abspaltung des Schiitentums darzustellen. Um nachvollziehen zu können, inwieweit diese These einen Wahrheitsanspruch besitzt, müssen wir zunächst die Begrifflichkeiten und Glaubensinhalte vor Augen halten.
Der Begriff „Schia" entspringt der arabischen Sprache und bedeutet unter anderem "Partei" oder „Anhängerschaft". Somit ist unter „Schia" keine eindeutige oder eigenständige (religiöse) Gruppierung zu verstehen, sondern er kann für eine Vielzahl von Gemeinschaften, die auch lediglich politische Motive besitzen, gebraucht werden. Im Koran wird auch von Nuhs Anhängerschaft gesprochen, worunter sich Prophet Ibrahim befindet.
Die frühislamische Geschichte und deren Gemeinschaft sind durch Spaltungen und Machtkämpfe gezeichnet, deren Resultat oft eine Ablehnung gegenüber Imam Ali war. Alte Feindschaften aus der vorislamischen Zeit, arabischer Tribalismus und religiöse Orientierungen förderten die Spaltung der islamischen Gemeinschaft, die in den Herrschaftsanspruch einzelner Gruppierungen mündete. Somit gab es bereits Konflikte in der Nachfolge des Propheten Muhammed, die bei der Konferenz in Saqifah sichtbar waren, sowie in den Ridda-Kriegen (zwischen Abubakr und den rebellischen arabischen Stämmen), der Kamelschlacht (Aischa gegen Imam Alis Führungsanspruch), sowie den Schlachten zwischen Muawiya und Imam Ali.
Prophet Muhammed verkündete zu verschiedenen und besonderen Anlässen, zuletzt bei seiner Abschiedspredigt bei Ghadir Khumm, den Führungsauftrag (Imamat) von Imam Ali und befahl den frühen Muslimen, sich ihm anzuschließen. Prophet Muhammed, der sich den göttlichen Fügungen bewusst war, konnte die Ablehnung gegenüber Imam Ali prophezeien und verkündete denjenigen, die als treue Anhänger Imam Alis ihm nicht den Rücken zukehren werden, siegreich zu sein. Somit wurden all jene Anhänger, die sich gegenüber den ersten drei Kalifen, Aischa, Muawiya und anderen Widersachern behaupteten und Imam Ali treu blieben, als „Shi'atul Ali" (Anhängerschaft Imam Alis) bezeichnet. Die Widersacher und deren Befolger wurden mit ähnlichen Begriffen wie „Shia Abubakr" oder „Shia Omar" bezeichnet. Somit galten die frühen und treuen Gefährten Imam Alis, wie Selman El-Farsi, Abu Dharr, Malik Al-Ashtar, Ammar ibn Yasir oder auch Qanbar als „Shi'atul Ali".
Im Laufe der Jahrhunderte haben sich aus der frühen Anhängerschaft Imam Alis verschiedene Strömungen gebildet, die aufgrund von politischen Motiven, regionalen Unterschieden oder religiösen Beweggründen eigene Namen angenommen haben. Hierunter zählen unter anderem die Turabi, Caferi, Kalenderi, Fatmidi, Idrissi, Rafidhi, Bektaschi, Kizilbasch, Talibi, Haydari und auch die Al-Alawiyyun - ein Name, der besonders für die Nachfahren Imam Alis gebraucht wird.
Die Anhängerschaft Imam Alis (Shi'atul Ali) hat sich besonders aufgrund von voneinander abweichenden religiösen Doktrinen gespalten, was unter anderem auf die Reihenfolge der Imame zurückzuführen ist. Als die drei Hauptströmungen innerhalb des Schiitentums existieren die 5-er Schia (Zaiditen), 7-er Schia (ismailiten) und 12-er Schia (Zwölfer Imamiten), welche wiederum in einzelne Denkschulen oder Glaubensrichtungen unterteilt werden können.
Wenngleich alle dieser Strömungen als Teil der „Schi'atul Ali" gelten, wird der Begriff „Schia" hauptsächlich durch die Zwölfer Imamiten gebraucht, die besonders im Iran, Irak oder Libanon vertreten sind. Zwölfer Imamiten in Aserbaidschan oder in der Türkei benutzen auch den Begriff „Caferi". Im Kontrast hierzu bezeichnen sich die Zaiditen oder Ismailiten beinahe ausschließlich mit ihren jeweiligen Namen, statt „Schia".
Das Alevitentum ist keine homogene Glaubensgemeinschaft, sondern vielmehr ein Überbegriff für eine Vielzahl von verschiedenen Strömungen, die durch das Wirken verschiedener Heiliger, die auch in Kontakt zueinander standen und voneinander gelernt haben, entstanden und verbreitet wurden. Hierunter zählen unter anderem die Kizilbasch, Bektaschi, Nusayri, Yaresan, Kakai und Aynu Abdal. Wenngleich alle alevitischen Strömungen an die zwölf Imame glauben und diese befolgen, heben sie sich von den iranischen Schiiten durch den Batini-Aspekt (Mystik Lehre) ab.
Die alevitische Lehre betont besonders diese Batini-Aspekte des Glaubens und vereint die Stufen der Scharia, Tariqa, Marifa und Haqiqa in sich, wodurch sich in sowohl in der Theorie als auch Praxis des Glaubens große Unterschiede zu den heutigen Schiiten verzeichnen lassen. Die Schiiten haben über die Jahrhunderte ein legalistisches System basierend auf der Scharia entwickelt, welches besonders durch Persönlichkeiten wie Nader Schah, zur Systematisierung einer Rechtsschule (Caferiyyah Madhab) führte. Somit werden die mystischen Elemente des Batin (die dennoch bei den Schiiten existieren) nicht nur außer Acht gelassen, sondern teilweise vollständig verworfen.
Aus diesem Grund finden die alevitischen Elemente des Cem, Müsahiplik, Marifa-Lehre oder das Fasten im Muharrem kaum mehr Beachtung unter den Schiiten, die durch die alevitischen Safaviden beeinflusst wurden.
Schlussendlich kann nun gesagt werden, dass die Aleviten zwar Teil der Anhängerschaft Imam Alis (Schi'atul Ali) sind, aber keine modernen Schiiten (Iran, Irak, Libanon) sind, die diesen Namen als Erkennungsmerkmal übernommen haben.