Was meint Nietzsche mit diesen Zitaten?

3 Antworten

Da ich mit Nietzsche mangels Lebenszeitüberschneidung nicht persönlich zu tun hatte, habe ich auch nicht mit ihm sprechen können und kann dir nicht versichern, dass er das, was ich mir darauf zusammenreime, auch wirklich gemeint hat. Aber im Folgenden ein paar Anregungen:

Der Glaube an die Zukunft fängt mit dem Zweifel an allen bisherigen Wahrheiten an.

Dass Zukunft irgendwann Gegenwart und dann Vergangenheit wird, ist unbestreitbar. Also ist der "Glaube an die Zukunft" nicht als Glaube an die Existenz einer wertneutralen Zukunft gemeint, sondern als Glaube an die Zukunft als Hoffnungsträger. Hoffnung macht Zukunft dann, wenn sich etwas in ihr verändert, was in der Gegenwart nicht verwirklicht ist. Bisherige Wahrheiten bestimmen unser Alltagsleben. Sie können durch den Zweifel auf den Prüfstand gesetellt werden. Dadurch zeigt sich, welche Wahrheiten weiterhin als solche anerkannt und welche vielleicht angesichts moderner Erkenntnisse widerlegt werden können. Widerlegte "Wahrheiten von gestern" sind Punkte, in denen Veränderung einsetzen wird.

Nietzsche war dafür bekannt, dass er die Menschheit nicht sonderlich hoch schätzte. Er sah in ihr ein großes Potenzial, was sich in der Idee des Übermenschen niederschlägt, aber im Grunde war er mit der aktuellen gesellschaftlichen Situation seinerzeit unzufrieden. Wo in der Zukunft Veränderung einsetzen würde, konnte endlich etwas wachsen, was Probleme der Gesellschaft seiner Zeit überwinden würde. Der Zweifel war übrigens in der gesamten Philosophiegeschichte immer wesentlicher Treibstoff des Erkenntnisgewinns.

Kann man nicht alle Werke umdrehen? Und ist Gut vielleicht Böse? Und Gott nur eine Erfindung und Feinheit des Teufels?

Ein paar Klassiker des Umdrehens von Werken: A rettet B das Leben. A tut dies aber nicht, weil B dann leben wird, sondern weil As Freunde, Familie und Bekannte ihn dafür loben, umschmeicheln, bewundern und feiern werden. Die Rettung hat zwar sozialen Charakter, ist im Grunde aber eine selbstsüchtige Handlung. Oder: A stiehlt. Er tut dies aber nicht, um seinen kleptomanen Bedürfnissen entgegenzukommen oder um den Ladeninhaber zu schädigen, sondern weil seine Kinder hungrig sind und er kein Geld hat, um ihnen Essen zu kaufen. Im Grunde macht er es aus Hilflosigkeit und aus Liebe zu seinen Nachkommen.

Generell gibt es bei der ganzen gut-böse-Thematik das Problem, dass eine Handlung nicht als solche gut oder böse sein kann, sondern nur in Relation zu den Motiven des Handelnden. Wer handelt, handelt in guter oder in böser Absicht, aus konstruktiven oder destruktiven Motiven heraus. Wie wir wissen, hat jede Medaille außerdem zwei Seiten, also auch die Konsequenzen der Handlung sind nicht leicht als Kriterium für gut und schlecht zu sehen.

Auch wieder zwei Beispiele: A misshandelt sein Kind, B behandelt seines liebevoll und umsorgend. As Kind wächst mit schweren Traumata heran, hat Schwierigkeiten in der Schule, wird zum Außenseiter, braucht später 13 Therapien, um die Traumata zu überwinden. As Kind wird durch die Erfahrungen und die Überwindungen der Traumata so stark, dass es Anführer einer revolutionären Bewegung wird. Durch diese Bewegung, die sogar nach dem Tod dieses Menschen noch erhalten bleibt, wird ein riesiger Entwicklungsprozess angestoßen, an dessen Ende jeder Mensch auf dem Planeten Erde Zugang zu sauberem Trinkwasser hat. Bs Kind hingegen kommt ganz gut durch die Schule und knüpft leicht neue Freundschaften. Weil Bs Kind nie von B manipuliert oder geächtet wurde, kann es allerdings nicht erkennen, wenn "Freunde" das machen. Bs Kind ist so gutgläubig und naiv, dass es immer wieder ausgenutzt und sitzen gelassen wird. Mit Mitte 30 schon wieder single, schon wieder von Freunden enttäuscht und total unerfahren in der Überwindung von Traumata, fällt Bs Kind dem Alkoholismus anheim und gerät in eine Abwärtsspirale, an deren Ende Depressionen, Gefängnisaufenthalte und letztlich die Selbstzerstörung stehen.

Man kann also die Sonnen- oder die Schattenseiten beleuchten und je nachdem, wie man die Dinge sieht, kann etwas, was intuitiv schlecht ist, etwas Gutes zur Folge haben und anders herum. Vielleicht hat sich der Teufel, die Repräsentation des Bösen, also Gott, die Repräsentation des Guten ausgedacht, als Gegenspieler für seine Machenschaften.

Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.

Diese Aussage ist schon einfacher. Liebe ist ein verrückter Zustand. Was aus Liebe passiert, passiert im Affekt und nicht unter Berücksichtigung von Moral oder Regeln des sozialen Zusammenlebens. Wenn "Gut" und "Böse" Dimensionen der Moral sind und wenn Moral etwas ist, was mit Rationalität zu tun hat, müssen Handlungen, die aus Liebe geschehen, einem irrationalen Gefühl, frei von Moral sein.

Hast du eine große Freude an etwas gehabt, so nimm Abschied! Nie kommt es zum zweiten Male.

Auch das ist relativ einfach. Nimmst du keinen Abschied von dem, woran du Freude hattest, hältst du dich daran fest. Wenn der Moment der Freude vorbei ist, liegt er bereits in der Vergangenheit und rückt immer weiter in die Ferne. Dabei wird deine Empfänglichkeit für Freuden der Gegenwart gedämpft. Wenn du dich beispielsweise in deinem Auslandsurlaub an der atemberaubenden neuartigen Natur erfreut hast, dich davon aber nicht verabschiedest, sehnst du dich möglicherweise immer wieder danach, dort zu sein. Du misst Freuden deines Lebens daran, ob sie diesen Moment übertreffen können, plagst dich mit Fernweh und verlierst den Blick für die kleinen Freuden, die diesen Moment bei weitem nicht übertreffen können, aber dein Leben dennoch bereichern könnten, wenn du dich ihnen nur zuwenden würdest. Nimmst du hingegen Abschied, denkst du vielleicht ab und zu mal daran, wie schön dieser Moment war, findest dich aber damit ab, dass du nie wieder an diesem Ort zum ersten Mal die wunderschöne Landschaft bestaunen wirst. Genau dieser magische Moment ist vorbei und es ist okay. Dadurch, dass du loslässt, bist du wieder frei für andere Momente der Freude.

Ich weiß zwar nicht, ob dir das eine Hilfe ist, aber ich hoffe es.


Machtnix53  12.02.2017, 10:21

Klasse Antwort! Schön, dass du wieder da bist.

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HolgerSchneider  12.02.2017, 10:23

Fabelhaft erklärt! In der Tat gibt es Gut und Böse nur im Verhältnis zu etwas.

Leider wird heute viel zu wenig beachtet, zu welchen Kompensationen der Mensch in der Lage ist. Die prächtigsten Bäume haben oft sehr viel Kälte und Sturm aushalten müssen.

Nietzsche ist niemand, der Antworten gibt. Dafür aber einen reichen Schatz an klugen Fragen und Denkanstößen.

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Wylegala 
Fragesteller
 12.02.2017, 11:18

KLASSE DANKE!!

Könntest du mir vielleicht auch diese weitern  Zitate anhand Beispielen erklären? Das wäre super.

-Kein Sieger glaubt an den Zufall

-Wir leben in einem System, in dem man entweder Rad sein muss oder unter Räder gerät.

-Die einen werden durch großes Lob schamhaft, die anderen frech.

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Janiela  12.02.2017, 12:42
@Wylegala

Kein Sieger glaubt an den Zufall

Wenn ein Sieg wegen eines Zufalls zustande käme, würde sich der Sieger nicht als Sieger empfinden, sondern er wäre lediglich der Glückliche, dem der Erfolg zufällig in den Schoß gefallen ist. Identifiziert sich jemand mit der Rolle des Siegers, hat er für gewöhnlich die Überzeugung, dass er selbst etwas zu seinem Sieg beigetragen, also sein Schicksal in die Hand genommen und aktiv beeinflusst hat. Im Falle von Sportsiegen ist das auch für gewöhnlich so: Dem Sieg ist ein Training vorhergegangen. Aber auch ein anderes, nicht ganz so einfaches Beispiel: Wenn du eine Klassenarbeit schreibst und eine 1 bekommst, kannst du daran glauben, dass

  • es daran liegt, dass du so besonders talentiert bist
  • es daran liegt, dass dein Lehrer dich gern hat
  • dir der Zufall gut mitgespielt hat oder
  • du dich gut auf die Klassenarbeit vorbereitet und dir damit deinen Erfolg erarbeitet hast.

Nur die dritte Variante ist Zufall, alle anderen Möglichkeiten sind beeinflussbar und/oder konstant.

Wir leben in einem System, in dem man entweder Rad sein muss oder unter Räder gerät.

Das lässt sich in vielen Bereichen veranschaulichen. Nehmen wir mal das Geldsystem: Wenn du mitmachst, also Geld erwirtschaftest und benutzt, bist du offenbar ein Rad im System. Du trägst zum Systemerhalt bei. Wenn du nicht mitmachen willst, also kein Geld erwirtschaften oder benutzen möchtest, gerätst du unter Räder: Du kannst deine Wohnung nicht bezahlen und deine Lebensmittel nicht einkaufen. Du kannst zwar hierfür Lösungen finden, beispielsweise dir selbst eine kleine Hütte am Waldrand bauen und einen großen Gemüsegarten anlegen, aber dadurch machst du dich auf anderen Ebenen angreifbar. Man wird dir vielleicht vorwerfen und dich dafür anklagen, dass du Land benutzt, das dir nicht gehört. Theoretisch hätte der Eigentümer der Fläche die Möglichkeit, dir unter Einsatz von Polizeigewalt zu verbieten, dein Haus zu betreten oder dein Gemüse zu essen. Wenn du dich wehrst, wirst du abgeführt und im schlimmsten Fall eingesperrt.

Ein anderes Beispiel ist das Schulsystem. Wenn du mitmachst, also deine Schulpflicht bis zur Vollendung des 18ten Lebensjahres wahrnimmst, bist du wieder ein Rad und trägst zum Systemerhalt bei. Machst du nicht mit, beispielsweise indem du einfach nicht zur Schule gehst, wird man zunächst versuchen, dich von der Polizei zur Schule bringen zu lassen. Wenn dir das wegen immer wieder neuer kluger Einfälle gelingt, schaffst du es vielleicht, trotzdem dem Unterricht fern zu bleiben, aber die Konsequenz ist, dass du im Erwachsenenalter schlechte Karten hast. Potenzielle Romanzen nehmen dich als Alien wahr, weil sie keine Erinnerungen an "die Schulzeit" mit dir teilen können und weil ihr kein gemeinsames Basiswissen habt, Arbeitgeber wollen dich nicht, weil dein fehlender Bildungsabschluss darauf hin deutet, dass du die Anforderungen der Arbeit (zum Beispiel Lese- und Schreibkompetenz, Dreisatz, je nach Job aber auch deutlich mehr) nicht erfüllen kannst und du entwickelst vielleicht sogar Orientierungsschwierigkeiten in einer Gesellschaft, in der die einzigen Gemeinsamkeiten zwischen den immer stärker spezialisierten Mitgliedern im Wesentlichen auf der gemeinsamen Grundbildung in der Schule beruhen.

Die einen werden durch großes Lob schamhaft, die anderen frech.

Schamgefühl ist die Angst vor Bewertung hinsichtlich Dingen, die man nicht ändern kann oder will und die man als Intimsphäre betrachtet. Wer nicht so sehr von sich überzeugt ist, wird das bestimmt nicht an die große Glocke hängen und der Welt erzählen: "Ich kann übrigens nichts!", sondern lieber hoffen, dass es so lange unentdeckt bleibt, bis es sich geändert hat. Wird diese Person nun auf ihr Kompetenzlevel angesprochen, indem man sie lobt, setzt ein Schamgefühl ein, weil damit die Intimsphäre dieses sensiblen Bereichs verletzt wird. Bestimmt hast du auch schonmal erlebt, wie ein Mitschüler oder eine Mitschülerin sich geziert hat, preiszugeben, dass er oder sie eine 1 bekommen hat. Wer viel auf sich hält, wird sich hingegen über großes Lob freuen und das möglicherweise auch anderen unter die Nase reiben. Auch das wirst du im Schulalltag schon einmal erlebt haben. Zu Nietzsches Zeiten war Bescheidenheit eine deutlich wichtigere Tugend als heute. Während es heute gesellschaftlich unbedingt gefordert ist, seine Stärken zu kennen, sich präsentieren und vor anderen gut darstellen zu können, war das zu Nietzsches Zeiten eigentlich eher ungern gesehen. Es war schlicht vorlaut, selbstverliebt und eben frech.

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HolgerSchneider  12.02.2017, 13:22
@Janiela

In Gemeinschaft macht man sich immer ein bißchen mit anderen gemein. Man hält dies oder das zurück von sich selber, stimmt jemandem vielleicht gänzlich zu, obwohl man seine Meinung nicht vollständig teilt, unterwirft sich womöglich Bräuchen, die einem eigentlich seelenfremd sind.

Ist jemand nun überaus empfindsam, besitzt einen höheren Anspruch an Wahrhaftigkeit, so kann es sein, daß großer Zuspruch ihn beschämt, da er sich ja zu einem gewissen Maß verbogen hat.

Er fühlt sich unter Umständen ein bißchen befleckt.

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Der Starke und Edle verfolgt einfach seinen Willen zur Macht. Er plagt sich nicht mit Zweifeln, stellt nicht die Frage, ob sein Handeln gut oder böse ist.

Will der ressentimentbefallene Schwächere den Starken von seinem Thron stürzen und selber Herrscher werden, muß er mit intelligenter, teuflischer List vorgehen. Die Starken schwächen, indem er sie dazu verführt, sich als Sünder schuldig zu fühlen. Der Schwächere kann schnell ein intellektuelles Raffinement entwickeln, mit dem der Starke und Edle in keiner Weise mithalten kann.

Liebe ist Hingabe an etwas. Das Nachdenken, Grübeln über die Richtigkeit des eigenen Verhaltens ist das Gegenteil, das Einnehmen einer Distanz.


Wylegala 
Fragesteller
 12.02.2017, 09:58

erstmal vielen DanK!!!!

Aber könnten sie es auch etwas leichter erklären?ich bin nämlich erst 15 Jahre alt und verstehe die meisten Wörter nicht.

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HolgerSchneider  12.02.2017, 10:16
@Wylegala

Der Löwe verputzt einfach die Antilope. Wenn jemand ein schlechtes Gewissen hat, so schwächt ihn das. Jemand, der eine führende Stellung einnimmt, verliert schnell sein Ansehen, wenn die Leute seine Unsicherheit spüren.

Man kann nur leben, z.B. mit Leidenschaft Fußball spielen oder nicht leben, darüber nachgrübeln, ob man überhaupt Fußball spielen will. Beides zugleich haut nicht hin.

Nietzsche mit 15 Jahren! Ein verdammt schwieriges Unternehmen.

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Machtnix53  12.02.2017, 10:31

Was hat das mit den Sätzen in der Frage zu tun?

Das ist deine Ideologie, aber nicht die von Nietzsche. Nicht zu zweifeln ist weder stark noch edel.

"Zweifle nicht an dem der dir sagt er hat Angst. Aber habe Angst vor dem der dir sagt er kennt keinen Zweifel." - Erich Fried

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HolgerSchneider  12.02.2017, 10:40
@Machtnix53

Himmel-und-Hölle-Spiel von Erich Fried. War mal mit jemandem in einer Mannschaft, der hat vor jedem Spiel herumgejault, wir würden es verlieren.

Jeder bewegt sich irgendwo zwischen den Polen "Gar nicht zweifeln" und "immer zweifeln".

Jede Weltanschauung baut auf einem Fundament auf, das nicht angezweifelt wird.

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Bei Nietschke, ist Halbwissen und in Frage stellen sein Motiv.
Natürlich ist Zukunft mal Gegenwart und Gegenwart mal Vergangenheit, aber
ich werde aus seinem "Kram" nicht schlau. Oder finden nicht was der Menschheit Fortschritte bringt.


HolgerSchneider  14.02.2017, 01:21

Carl Schmitt: Wer "Menschheit sagt, der will betrügen."

Gesundes Leben verfolgt seinen eigenen Willen zur Macht. Läuft nicht blutarmen geistigen Konstrukten wie "die Menschen" nach.

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