Tipps und Tricks, um das Versmaß zu erkennen
Hallo,
ich muss am Donnerstag ein Gedicht vorstellen und sitze jetzt seit einiger Zeit am Versmaß. Ich würde gerne wissen, ob ihr Tipps habt, wie man das Versmaß garantiert erkennen kann. Bloßes Sprechen und probieren hilft leider nichts, obwohl sich User in Foren und Lehrer darüber wundern, wie man das Versmaß nicht erkennen kann.
Gibt es beispielsweise Wörter oder Silben, die bestimmten Regelmäßigkeiten folgen, also z. B. immer (un)betont sind und anhand derer man sich das Versmaß "herleiten" kann? Oder gibt es sonst irgendwelche Regeln?
Als Beispiel hier mal ein Satz aus dem Gedicht:
Gestalten wie verjährter Widerhall ziehen an mir vorüber.
Ich hätte es so gemacht:
Ge|stal|ten wie ver|jähr|ter Wi|der|hall zie|hen an mir vo|rü|ber.
Aber das entspricht keinem mir bekannten Versmaß.
2 Antworten
Silben mit kurzem e, das eher wie ein kurzes ö klingt, dem sog. Schwa-Laut, sind im Deutschen immer unbetont, in dem Vers oben also "Ge-" in "Gestalten", "-ter" in "verjährter", "-der-" in "Widerhall", "-hen" in "ziehen", "-ber" in "vorüber".
Normalerweise folgen maximal zwei unbetonte Silben aufeinander; in deinem Beispiel sind auch "wie" und "mir" betont, wenn auch weniger stark als die von dir markierten Silben.
Unklar ist, ob auch de Silbe "-hall" betont ist, wodurch sich zwischen den beiden betonten Silben "-hall" und "zie-" eine Zäsur ergeben würde. Das könnte man jedoch nur im Vergleich mit anderen Zeilen des Gedichts beurteilen (haben sie sieben oder acht betonte Silben?).
Wenn das "vorüber" eingerückt ist, ist es wohl so, dass es zum ersten Vers gehört, aber einfach nicht mehr in dieselbe Zeile gepasst hat.
Ich würde die Betonungen im ersten Vers genauso setzen wie du. Das Gedicht hat kein regelmäßiges Versmaß.
Die beste Methode, das Versmaß herauszufinden, ist die Verteilung der Betonungen zu begutachten... Kannst du den Unterschied zwischen betont und unbetont nicht hören? Aber du sprichst schon normal, oder? Klingt es für dich nicht seltsam, ein Wort "verkehrt" auszusprechen?
Es existieren zwar Regelmäßigkeiten für die Betonung, allerdings sind die meisten davon so in der Sprachgeschichte verschüttet, dass es ein Studium in Sprachwissenschaft benötigt, sie korrekt herzuleiten. Zwar kannst du meistens davon ausgehen, dass Prä- und Suffixe unbetont sind (Ge-, ver- in deinem Beispiel), allerdings ist z.B. bei dem Wort "Veränderungen" sowohl das "än" als auch das "ung" betont, obwohl "ung" ein Suffix ist, funktioniert also auch nicht immer. Vielleicht nur, wenn danach nichts mehr kommt? Ansonsten ist die erste Silbe des zentralen Wortes (also ohne Präfixe) normalerweise betont. Es gibt einen Ausspracheduden, den habe ich allerdings nicht, evtl. steht da was drüber drin...
Klingt es für dich nicht seltsam, ein Wort "verkehrt" auszusprechen?
Naja, das Problem ist eher, dass ich nicht weiß, wie man ein Wort "richtig" ausspricht - woher auch? Das weiß ich nur im englischen und spanischen, da ich diese beiden Sprache neu lerne und die Betonung mir beigebracht wird. Die deutsche Sprache kann ich aber ja von Geburt an und habe mir nie Gedanken gemacht, ob ich nun "Gestalten" oder "Gestalten" sage.
Wäre der Satz dann ein Jambus mit männl. Kadenz, wenn Ge- und ver- unbetont sind? Danke für die Hilfe.
Bis zu "Hall" ja, danach ist es uneinheitlich. Die Betonungen sind
Gestalten wie verjährter Widerhall ziehen an mir vorüber.
Der Satz endet mit einer weiblichen Kadenz, da die letzte Silbe unbetont ist.
Aber "woher auch"? Na eben weil es deine Muttersprache ist. Zwar macht man sich darüber keine Gedanken, weil man es intuitiv kann, aber wenn man es dann überbetont, wie dir bei der Versmaßanalyse angeraten wird, erkennt man normalerweise, was falsch klingt. Wenn du "Gestalten" auf "Ge" und "en" betonst, sollte sich das falsch anhören (Geestalteen). Wenn du jemanden so reden hören würdest, würdest du dich doch wundern, oder nicht? Aber wenn dich im Gespräch nicht jeder schief anguckt, betonst du es doch wohl intuitiv korrekt...
Danke für Deine wirklich sehr hilfreiche Antwort. Tatsächlich hat der Editor von Gutefrage einen Fehler gemacht. Das "Vorüber" ist der zweite Vers des Gedichts. Zumindest ist es so abgedruckt.
Wobei ich mir da nicht ganz sicher bin, da vorüber leicht verrückt ist. Das sind die ersten fünf Verse (insgesamt sind es 30).