Promotion oder Industrie?
Vor drei Jahren nach meinem Masterabschluss in Materialwissenschaften stand ich schon mal vor der Entscheidung: Ich hatte Zusagen sowohl für Promotionsprojekte als auch für die Industrie. Da es sich bei einer der Industriestellen um eine Arbeit ganz in der Nähe meiner Freundin handelte, war die Sache natürlich klar (und ich bereue diesen Schritt absolut nicht). Ich bin 31 Jahre alt und habe den Master deshalb so spät abgeschlossen, weil ich nach dem Bachelor ebenfalls eher zaghaft war und erstmal drei Jahre in der Industrie gearbeitet habe (meine Eltern sehen das Studieren und alles, was damit zu tun hat, eher kritisch).
Inzwischen gibt es aber immer mal wieder passende Promotionsangebote an der Uni in der Stadt, in der ich jetzt wohne, so auch jetzt.
Die Rahmenbedingungen:
- Mein Industriejob ist vollzeit (40 h, üblicherweise mehr) und ich pendle pro Strecke ca. 45 min bis 1 h mit dem Auto. Schlecht bezahlt wird man ja als Materialwissenschaftler in der Industrie nicht
- Die Promotionsstellen sind meist nur Teilzeit (20 - 30 h, jetzt habe ich bspw. auch eine Stelle gesehen, die anstrebt, über Drittmittel auf 40 h zu kommen - sehe ich aber in Corona-Zeiten eher pessimistisch). Das Pendeln ließe sich auf ca. 30 min pro Strecke mit dem Fahrrad reduzieren.
- In dem Unternehmen, in dem ich arbeite, gibt es auch Leute, die 50/50 an der Uni und in unserem Betrieb arbeiten und quasi nebenberuflich promovieren. Hier kenne ich aber nur Fälle aus z.B. der theoretischen Physik. Das ist vielleicht etwas leichter hinsichtlich Ressourcenplanung als bei meinem Fach. Schließlich werde ich Zugriff auf diverse Laborgeräte brauchen und der theoretische Physiker benötigt im Wesentlichen Rechenleistung.
Meine Motivation für eine Promotion wäre nicht zwangsläufig der Titel sondern im Wesentlichen die, einen Fußabdruck in der Wissenschaft zu hinterlassen. Die Aussicht auf eine bescheidene Publikationsliste reizt mich mehr als die auf einen Team- oder Projektleiterposten, der zwar gut bezahlt ist, aber in dem ich mir nicht mehr viel Fachexpertise aneignen kann. In der Industrie sehe ich das vergleichbar mit Patenten, aber darin ist die Abteilung, in der ich arbeite, nicht wirklich gut aufgestellt (das machen bei uns weniger die Naturwissenschaftler, mehr die Ingenieure und Konstrukteure).
Gibt es Leute, die Erfahrung mit einer "späten" Promotion (nach ein paar Jahren Industrie) haben?
Hat jemand Erfahrung mit einer nebenberuflichen Promotion?
Glaubt ihr, ich "verbaue" mir etwas, wenn ich nach vier Jahren sowohl die Firma wie auch die Uni ohne Titel verlasse, um bspw. aus persönlichen Gründen den Wohnort zu wechseln und mich dort neu auf eine Vollzeitstelle bewerbe?
Vielleicht gibt es hier ja auch User, die im echten Leben Personalverantwortung tragen und so einen Lebenslauf ein wenig einsortieren können.
Danke schonmal.
1 Antwort
PS: Personalverantwortung habe ich "nur" in meinen eigenen Unternehmen verschiedener Bereiche seit ca. 1980. Mittlerweile arbeite ich aber mit meinem Team als Coach, Consulter, Controller in einem speziellen Dienstleistungsbereich (Ganz Deutschland und Tirol) - Ich versuche, deinen Konflikt möglichst einfach zu lösen, vielleicht überzeugt es dich:
1 Auch in deinem Bereich wird es wegen der internationalen wissenschaftlichen Arbeit so sein, dass die Ergebnisse deiner Dissertation bereits ein paar Monate später überholt sein werden, aber trotzdem wichtig waren. Also nicht unbedingt ein unausweichlicher Grund zu promovieren ... wenn du dich nicht eines Tages noch spezifischer habilitieren möchtest.
Der Doktor-Titel gibt dir aber die erste Stufe der seriösen Lehrbefähigung, falls du eines Tages aus irgendwelchen Gründen (z. B. Erkrankung - Burnout-Syndrom, Unfallfolgen, Langzeitarbeitslosigkeit wegen Insolvenz, Wohnortwechsel, Erbschaft, Lottogewinn) als Honorardozent für dein Lieblingsfach an einer Hochschule tätig sein möchtest oder vielleicht ein für Studenten verpflichtetes Fachbuch schreiben oder eine Reihe von Lehrvideos kreieren möchtest - musst: Leider kenne ich ein paar solcher Naturwissenschaftler und Techniker, die nie an derartige Karrierekrisen in ihren Positionen der freien Wirtschaft gedacht haben - und seit längeren Jahren als Endvierziger nur noch kurzzeitige "Projektarbeiten" als befristete Angestellte oder Subunternehmer ausführen können.
2 Nach vier Jahren Betriebszugehörigkeit kündigt man heutzutage nicht einfach, wenn man damit nicht tatsächlich eine auf der Karriereleiter höhere Sprosse sofort beim Antritt der neuen Angestelltenstelle erreichen kann.
Also wäre dir die nebenberufliche Promotion anzuraten, wenn das Thema deine Leidenschaft weckt, denn dann gelingt sie dir auch bestens. Mit dem Doktortitel suchst du dann langsam eine neue Position, vielleicht auch in einem anderen Unternehmen, die dir noch mehr zusagt, also mit Materialentwicklung für Patente. Geh´ deine Leiter ruhig und langsam und bedachtsam, denn wahrscheinlich darfst auch du fast bis zum 70. Geburtstag angestellt arbeiten, bis man dir deine vollen Rentenbezüge überweisen kann.