Die Annahme, der Islam stehe in Verbindung mit der schwächelnden Wirtschaft vieler islamischer Staaten, wirkt im ersten Moment logisch, stellt sich aber als Scheinkausalität heraus.

Viele islamische Staaten standen über lange Zeit unter Fremdherrschaft. Der Nahe Osten war zuletzt durch europäischen Kolonialismus in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Kolonialmächte nutzten die Staaten für eigene Vorteile aus:

 Erklärungsbedürftig scheinen weniger der Sieg der Muslime gegen das byzantinische und sassanidische Imperium und die weiteren Landgewinne zu sein als die Frage, warum Europa etwa ab dem 15.Jahrhundert durch seefahrerischen Wagemut, die Entwicklung von Feuerwaffen und andere technische Neuerungen den Rest der Welt ins Hintertreffen bringen konnte. Aber selbst wenn diese Frage zu beantworten wäre: Von einer großen Zahl heutiger Muslime wird der Befund des Niedergangs als schwere Kränkung empfunden.

Viele islamische Staaten wurden systematisch benachteiligt:

Die Form der jeweiligen Herrschaftsausübung hing nicht nur vom Kolonialherren ab, sondern auch vom beherrschten Gebiet. Die Franzosen kontrollierten beispielsweise Algerien anders als Tunesien oder Marokko. Dabei nimmt Algerien als «überseeische Provinz» Frankreichs allgemein den Platz am einen Ende des Spektrums ein. Das Arabische wollte man hier mit Stumpf und Stiel ausrotten, und deshalb wurde es an den staatlichen Schulen gar nicht oder nur als «Fremdsprache» unterrichtet. [...] Die Dekolonisation setzte nur in Ägypten bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg ein. Spät und vergleichsweise unproblematisch war sie im Gebiet der britischen Protektorate an der Golfküste, blutig und langwierig in Algerien, wo 1954 ein Kolonialkrieg ausbrach und 1962 beendet wurde, der auf algerischer Seite Hunderttausende von Opfern forderte. Die Folgen der kolonialen Eingriffe in Ökonomie und Gesellschaft beschäftigten das Land noch Jahrzehnte.

Aber neben dem Kolonialismus gibt es weitere Gründe für die heutige Situation:

Die formal unabhängig gewordenen arabischen Staaten wurden über die längste Zeit ihrer Geschichte hin von – teils notdürftig maskierten – Militädiktaturen beziehungsweise im Falle Marokkos und Jordaniens von absoluten Monarchien beherrscht. Für die Wirtschaftspolitik bedeutete dies, dass sie zur Stützung der schwachen Legitimität eingesetzt wurde und damit nicht unbedingt zum größeren Wohl der Allgemeinheit. Sozialistische Fehlplanung – beispielsweise in Gestalt nicht zukunftsfähiger Industrialisierungsprojekte – sowie Korruption taten ein Übriges. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung war also alles in allem – sogar in Staaten wie Algerien mit seinen großen Erdöl- und Erdgasexporten – in hohem Maße negativ. Das enorme Bevölkerungswachstum hat dazu geführt, dass die erheblichen Anstrengungen im Bildungsbereich bei weitem nicht ausreichten. Die Beschäftigungslosigkeit besonders unter Jugendlichen ist bis heute immens, und seit den 1990er Jahren ist im Vorderen Orient und in Nordafrika die Einkommensungleichheit stärker gewachsen als in Südasien, Lateinamerika und im subsaharischen Afrika.

Jahrhunderte Fremdherrschaft wurden durch Diktaturen ausgetauscht. Hinzu kommt eine Wechselwirkung zwischen der Fremdherrschaft und der Entstehung des Islamismus. Diese findet u. a. im Kolonialismus ihre Gründe.

Diese Wechselwirkung setzt sich bis heute fort und der Kampf gegen Islamismus und Terrorismus nutzen viele Herrscher als legitimes Mittel um ihre Macht und ihre Gewalt zu begründen.

Quelle: Islamismus: Geschichte, Vordenker, Organisationen von Tilman Seidensticker, 2014

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