Wieso ist es Trend mit seinen psychischen Diagnosen hausieren zu gehen?

7 Antworten

Du redest im Titel von "psychischen Diagnosen", aber dann, ganz unten, erwähnst du Autismus und ADHS - Beides neurologische Entwicklungsstörungen!

Das sind also weder Krankheiten, noch psychische Erkrankungen. Du kannst dich doch nicht über sowas beschweren, wenn du noch nicht einmal Entwicklungsstörungen und Erkrankungen voneinander trennen kannst, sie zusammen in einen Topf wirfst.

Ich fasse es ganz kurz: Krankheiten können zu jedem Zeitpunkt im Leben auftreten, Entwicklungsstörungen haben nur einen befestigen Zeitrahmen, in dem sie sich entwickeln können. Im Falle von Autismus - und ich glaube auch ADHS (Mit ADHS kenne ich mich nicht so gut aus, meine Expertise gilt nur der Autismus-Spektrum-Störung) - sind diese sogar immer angeboren. Und das ist nur einer von mehreren Unterschieden, die extrem wichtig sind, denn eine Krankheit will und versucht man zu heilen, doch wir Autisten benötigen keine Heilung, weil wir nicht krank sind. (Ja, wir können behindert sein - dazu komme ich noch -, aber eine Behinderung ist nicht immer eine Krankheit, auch wenn Krankheiten, nach einem bestimmten Zeitrahmen, zu anerkannten Behinderungen werden können.)

Man labelt sich 

Nochmal: Meine gesamte Antwort bezieht sich ausschließlich auf Autismus.

Wir Autisten werden so oder so gelabelt. Und soll ich dir sagen, wie? Momentchen, da hätten wir z.B. im Angebot:

  • unempathisch
  • Heulsuse
  • überempfindlich
  • Memme
  • dumm
  • langsam
  • sozial zurückgeblieben
  • egoistisch
  • pingelig
  • verwöhnt
  • nervig
  • "too much"
  • behindert (aber nicht neutral gemeint, sondern als Beleidigung - Sehr wichtig, das zu unterscheiden, da behindert sein und das Wort "behindert" an und für sich gar nichts Negatives sind und auch nicht so gehandhabt werden dürfen)
  • "lebt in seiner/ihrer eigenen Welt"
  • störend
  • zu laut
  • zu leise
  • arrogant
  • nicht kompromissbereit
  • anstrengend
  • uvm.

Denkst du nicht, da ist es sinnvoller, sich korrekt zu labeln?

Abgesehen davon ist mein Autismus kein Label, sondern verdammt nochmal eine - fachärztliche - Diagnose!

Ich label mich nicht als Autistin, ich bin eine Autistin. Meine Güte. Wir Autisten werden sowieso gelabelt, mit einem Haufen von Adjektiven, die völlig inkorrekt und meistens beleidigend, verletzend uns gegenüber sind. Warum soll ich mich als all sowas labeln lassen, wenn ich auch einfach sagen kann, dass ich Autistin bin? Viel simpler. Denn das stimmt ja.

Gerade bei Neurodivergenzen wie Autismus - von denen fast niemand eine Ahnung hat, aber viele denken, sie hätten sie und die seit Jahrzehnten unnötigerweise pathologisiert und komplett ins falsche Licht gerückt wurde - ist es klar, dass sich autistische Stimmen im Netz viel mehr Gehör verschaffen. Nicht zuletzt, weil wir durch das Internet noch viel mehr mitbekommen als früher.

Und schau, was denkst du, wie viel Kraft das jemandem geben kann, wenn man sieht: Da draußen gibt es Leute, die sind so wie ich, die haben die selben Probleme wie ich, die fühlen so wie ich - Die verstehen mich? Extrem viel. Wir müssen so laut sein, um uns gegenseitig zu unterstützen. Ratschläge von fellow neurodivergent folx sind meistens einfach hilfreicher, als welche, von neurotypischen Leuten und seien sie auch noch so gut gemeint. Das liegt daran, dass sich die Gehirne von neurotypischen und von neurodiversen (in diesem speziellen Fall autistischen) Menschen unterschiedlich entwickelt haben. (Wir erinnern uns: neurologische Entwicklungsstörung. Neurologie = Gehirn.) Wer ein anderes Gehirn hat, der kann die Probleme einer anderen Person mit einem anderen Gehirn einfach nicht so gut nachvollziehen, wie eine Person mit dem selben Gehirn. Genauso wenig wie eventuelle Lösungswege.

Ganz davon abgesehen, dass Autismus wortwörtlich seit ein paar Jahren mein Spezialinteresse ist. Natürlich werde ich darüber reden. Ich bin Autistin. Infodumping über unser Spezialinteresse ist mitunter das, was wir Autisten am besten können. Das Internet existiert - Ich werde es nutzen. Um aufzuklären. Und um meinen Frust rauszulassen. Und ich werde sagen, dass ich Autistin bin. Weil daran überhaupt nichts Schlimmes ist. Und weil ich auch nicht behaupten kann, ich wüsste viel über Autismus, wenn ich nicht selber Autistin bin.

Ich bin nicht chaotisch, ich habe nur ADHS… so nach dem Motto.

Ich bin mir relativ sicher, dass die meisten ADHSler sagen würden, dass sie chaotisch sind, weil sie ADHSler sind - Also sie würden ihren Hang zum Chaos nicht verleugnen, oder?

Wie dem auch sei. Auf uns Autisten umgemünzt wäre das also? "Wir haben keine sensory differences, wir sind nur autistisch?" Zum Beispiel?

Ich meine: Ich hab sensory differences/difficulties, weil ich autistisch bin.

Du sagst ja quasi, ADHSler würden ihr ADHS als Ausrede benutzen, um zu sagen "Ich muss mich nicht darum kümmern, weniger chaotisch zu sein, weil ich hab ADHS", stimmt's?

Also müssen wir Autisten uns extremen psychischen und physischen Schmerzen aussetzen, immer und immer wieder, da wir ja nicht unsere sensory differences/difficulties als "Ausrede" benutzen sollen?

Aber du, es ist keine Ausrede, solange es dadurch erklärt werden kann. Als nächstes willst du mir sagen, ein Rollstuhlfahrer ohne Beine benutzt das auch nur als Ausrede. Sicher kann der laufen. Und ein Blinder kann sehen, gehörlose Menschen können prima hören und stumme Menschen können ganz normal reden. Das sind alles nur Ausreden, stimmt doch so, oder?

Doch es stimmt selbstverständlich nicht. Du würdest niemals von einem Rollstuhlfahrer verlangen, dass er einen Marathon läuft. (Läuft, nicht rollt.) Jedoch verlangst du von uns Autisten so gesehen doch irgendwie genau das. Das ergibt keinen Sinn. Und ja, ich weiß, du hast von ADHSlern gesprochen, aber du hast auch Autismus erwähnt, deshalb gehe ich stark davon aus, dass du bei uns sowas ähnliches geschrieben hättest.

Ich kann alles mit meinem Autismus erklären, was ich mit meinem Autismus erklären kann. Und das werde ich. Ich kann mit meinem Autismus nicht erklären, weshalb Royalblau meine Lieblingsfarbe ist oder whatever, doch ich kann vieles andere damit erklären. Viele Verhaltensweisen und Probleme. Viele Gefühle, Emotionen. Viele Denkweisen.

Und weshalb sollte ich auch nicht?

Weil ich gegen meinen Autismus ankämpfen soll? Bitte was? Nein. Das tue ich nicht. Das muss ich nicht. Ich akzeptiere ihn. Alles andere ist sinnlos. Ein Blinder macht auch das Beste draus und wenn du einen Blinden siehst, erwartest du nicht, dass er sehen kann. Ich wiederhole mich. Du weißt, was ich damit sagen möchte.

Ich machs mir doch nicht absichtlich schwerer, als ich es als neurodiverse Person in dieser Welt eh schon habe. Dafür sind Diagnosen da. Ich frag' mich doch auch nicht, weshalb ich nicht alleine rausgehen kann, schaue auf meine Sozialphobie-Diagnose (Die ich auch habe) und denk' mir dann "Hmmmm, neee, also an meiner Sozialphobie kann das nicht liegen". Und ich schaue auch nicht auf meine Autismus-Diagnose und denke mir "Hmmmmmm, ich hasse laute Geräusche, Exekutive Funktion mies, Orientierungssinn ebenfalls, hasse Smalltalk und all dies und sehr vieles mehr ist genau das, womit Autisten Schwierigkeiten haben - Ach, neeeee, das liegt sicherlich nicht an meinem Autismus".

Also bitte.

Es ist ja an sich gut, dass man damit offen umgeht, aber wieso so offen? 

Erinnert mich an "Ich bin ja für LGBTQ+, aber nur solange ich sie nicht bemerke."

Nagelpilz habe oder Morbus Chron ist das doch auch keine Sache, die man an die große Glocke hängt.

Newsflash: Nagelpilz oder Morbus Crohn haben absolut rein gar nichts mit deiner Gehirnstruktur zu tun. Das heißt, es beeinflusst nicht die Entwicklung deiner Neurologie. Wer hätte es gedacht? Mal wieder keiner. Wow! Fakten! So viel neues Wissen! Der Wahnsinn!

Und nein, Autismus ist nicht "trendy". Es werden mehr Leute diagnostiziert, weil Ärzte besser darin werden, Autismus zu erkennen. Aber es ist noch sehr viel Luft nach oben. Man darf stark davon ausgehen, dass der wahre Anteil an Autisten (viele betreiben erfolgreiches Masking) nochmal entsprechend höher ist. Es gab schon immer verhältnismäßig, auf die Weltbevölkerung umgerechnet, so viele Autisten. Sie wurden früher nur nicht erkannt ... oder halt ermordet oder so.

Joa, also wieso sollte ich nicht mit meiner Diagnose hausieren gehen? Mein Autismus ist ja nichts Negatives. Ich bin nichts Negatives. Das muss nicht versteckt werden. Ich bin nicht stolz darauf, Autistin zu sein, weil ich nichts dafür getan habe. Aber ich muss es auch nicht grundlos negativieren und versuchen, etwas dagegen zu unternehmen, was mir hinterher nur noch mehr Schaden zufügen wird. Ich bin es, das ist in Ordnung, andere dürfen davon wissen.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Ich bin diagnostizierte Autistin (Keine Selbstdiagnose)👽

Je öfters Leute - wie du - Autismus unter "psychische Erkrankung / Krankheit" einordnen, umso mehr bekommen sie von mir zu lesen, dass

Autismus weder etwas mit der Psyche zu tun hat, noch eine Erkrankung / Krankheit ist.

Ich bin diagnostizierte Autistin und gehe damit garantiert nicht hausieren.
Ich sage nicht "ich habe gerade wohl einen Menschen beleidigt, weil ich Autistin bin".

Es kommt auch kein "weil ich Autismus habe, habe ich gerade - in den Augen meines Gegenüber unfreundlich / überreagiert" von mir.

Sehr viele Menschen in meinem direkten Umfeld wissen gar nichts von meinem ASS.
Die wundern sich eher, warum ich so "komisch" bin.

Autismus ist eine neuronale Entwicklungsstörung und der Wissenstand darüber ist besonders in Deutschland immer noch auf einem sehr niedrigen und beschämenden Niveau.

Was ich immer wieder über Autismus lese, zeigt mir, dass nicht wirklich Interesse daran besteht, Laien und Ärzte darüber fachkundig aufzuklären.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – ASS-Diagnose mit 50 / über 20 Jahren im Thema

fallenstelle320  21.09.2024, 20:04

autismus ist einfach eine psychische störung

kiniro  21.09.2024, 21:07
@fallenstelle320

Nein, ist es nicht.

Es ist eine neuronale Entwicklungsstörung bei der als Komorbidität oft psychische Störungen / Krankheiten zusätzlich vorkommen (können).

Weil viele Aufmerksamkeit wollen. Oftmals fehlt Menschen was (emotional gesehen) und möchten sich ihre "zuneigung" anderswo herholen.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Diagnosen: u.a. Schizophrenie, PTBS, Kombinierte PS

Ich mache das öffentlich nicht, aber z.B. in Spielen, wenn ich mich mit anderen anfreunde (Gilden usw.) mache ich es oft, um Missverständnisse zu vermeiden.
Psychisch Kranke ticken oft anders, können aber nichts dafür.
Wir hatten bei der Bundeswehr jemanden, der oft nicht mithalten konnte, alle hatten einen Hass auf ihn, weil sie drunter leiden mussten und haben ihm mangelnde Leistungsbereitschaft unterstellt, später stellte sich heraus, dass er einen Herzklappenfehler hatte und nicht besser konnte, wenn das klar gewesen wäre, hätte er sich sicher einiges erspart... Ist vielleicht so ähnlich.


fallenstelle320  21.09.2024, 20:05

lol darum nehm ich sowas nicht mehr in gaming gilden auf

Ich denke nicht, dass die Personen, die dort ihr Leiden teilen, schlechte Absichten haben. Sie sind eher gefangen. Sie haben Ängste und möchten gehört werden. Vielleicht sind sie einsam und allein. Wir sind eine sehr individualistische Gesellschaft, das Individuum wird groß an die Glocke gehängt, Einsamkeit, alleine wohnen... eine große Gefahr heute. Und das Internet ist hier dann oft die einfachste Möglichkeit, diese Emotionen irgendwo rauszulassen.