Sehen Menschen mit Autismus unsere Welt durch andere Augen?

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Das ist eine sehr schwierige aber auch interessante Frage. Ich versuche mal zu erklären wie es bei mir ist bin aber noch nicht diagnostiziert. Bei mir ist es so, dass ich zum Beispiel sehr viele Geräusche gleichzeitig wahrnehme. Zum Beispiel die Stimm meiner Mama und den lauten Straßenlärm in der Stadt. Es gibt viele Geräusche die ich nicht mag zum Beispiel Sirenen und Straßenlärm. Auch das piepen von einigen Geräten stört mich sehr. Aber es gibt auch laute Geräusche die ich liebe zum Beispiel wenn meine Lieblings Musik richtig laut angestellt ist. 😍

Außerdem mag ich keine flacker Lichter wie man sie von der Diskothek, Konzerten und anderen Veranstaltungen kennt. Ich mag es auch meist gar nicht, wenn viele Menschen auf einem Haufen sind und es eng ist dadurch. Auch die Enge in Klamotten Läden zum Beispiel durch diese ganzen Ständer und Regale und Tische macht mich oft verrückt.
Unterwegs habe ich immer meine Noise Cancelling Kopfhörer 🎧 dabei.

Ja, wir nehmen die Welt anders wahr.

Nein, wir leben nicht in unserer eigenen Welt - Ganz egal, wie viele Leute das noch fälschlicherweise behaupten wollen.

Wir sind vielleicht sehr verträumt, aber unsere Körper lösen sich nicht plötzlich in Luft auf und wir verschwinden in eine völlig andere Ebene, in eine alternative Realität.

Manchmal glaube ich scherzhaft, einige behaupten das nur, weil sie neidisch auf uns sind. Wie stellen sich Leute das vor? Dass wir uns in eine Welt denken können, in der wir keine Miete zahlen müssen und jeden Tag World-Dino-Chicken-Nuggets-Day ist, an dem jeden Tag Dino Chicken Nuggets verzehrt werden - Kostenlos und völlig ohne Kalorien, aber mit genauso viel Geschmack? Ja, dann wäre ich auch neidisch. Neidisch darauf, dass ich das nicht auch kann. Verheimlichen mir andere Autisten da etwas? Ich mag auch 🦖-Nuggies, wieso kann ich nicht für immer in die 🦖-Nuggies-Welt eintauchen? 😔 So ungerecht.

Nein, natürlich funktioniert das so nicht ...

Wenn man damit sagen will, dass wir sehr verträumt sind - Okay. Ja, sind wir. Doch dann soll man das auch genau so sagen. Kaum einer marginalisierten Menschengruppe wird so oft hinterhergesagt, sie würden in ihrer "eigenen Welt" leben, wie uns Autisten.

Und das ist unter anderem deshalb so ... ekelhaft, muss ich so sagen, weil das auch ganz schnell dafür sorgen kann, dass Leute denken, sie müssten nicht versuchen, die Welt weniger sensorisch zu überladen (Was leider sowieso die allerwenigsten versuchen), denn wir "leben ja in unserer eigenen Welt", deshalb "bekommen wir davon nichts mit".

Wie kann sich solch ein absolut behämmertes Klischee, eine verletzende und sofort widerlegbare Falschinforamtion so viele Jahrzehnte über Wasser halten?

Weiß die Gesellschaft wirklich so wenig über uns Autisten? Ja, die meisten wissen extrem wenig - denken aber, sie wüssten genug, um zum Thema Autismus etwas zu sagen -, aber meine Güte: Sensory Overload, sensorische Hypersensibilität, die Tatsache, dass wir sensorische Informationen anders wahrnehmen, als neurotypische Menschen, sind die mitunter bekanntesten Merkmale von Autismus. Jeder, der schon einmal etwas von dem Thema mitbekommen hat, weiß das. Das sind keine Informationen, für die man Fachbücher lesen muss, für die man jahrelang recherchiert, für die man 500 Autisten interviewt, für die man Autismus studiert haben, für die man in der Autistic Community unterwegs und Teil dieser sein muss.

Dinge wie Hypersensibilität sind so bekannt, dass es dafür keine Ausrede gibt, sowas zu behaupten.

Hyper- or hyporeactivity to sensory input or unusual interest in sensory aspects of the environment (e.g. apparent indifference to pain/temperature, adverse response to specific sounds or textures, excessive smelling or touching of objects, visual fascination with lights or movement).

Quelle

Das ist nicht schwer zu finden. Echt nicht.

Wir leben in unserer eigenen Welt ... Ja, eben nicht, sonst könnten wir jedes Mal in unsere eigene Welt abtauchen, wenn es uns zu viel wird.

Ich meine ... Nein. Nein, ich verstehe das echt nicht. Wirklich nicht. Wie können so viele Leute das wissen und trotzdem denken, wir würden in unserer eigenen Welt leben? Rein logisch betrachtet ergibt das schon keinen Sinn. Kein Autist hat einen Meltdown oder Shutdown aus freien Stücken. Wenn wir die Wahl hätten zwischen Meltdown/Shutdown und einfach mal in unsere eigene Welt eintauchen, würden wir die eigene Welt jederzeit vorziehen, denn mit Meltdowns sowie Shutdowns ist nicht zu spaßen.

Jedes Mal, wenn dieses Thema aufkommt, denke ich an all die Leute, die behaupten, autistische Kinder, die nicht sprechen können, nicht (immer/sofort) auf ihren Namen reagieren, seien dumm und würden nichts verstehen. Du weißt nicht, wie oft ich schon mitbekommen und gelesen habe, dass die Eltern/Erziehungsberechtigten solcher autistischen Menschen (meist Kindern) schlecht über ihr autistisches Kind redeten - in der Anwesenheit ihres autistischen Kindes! -, als wäre es nicht da, als würde es sie nicht hören, als wäre es zu dumm, als würde es nicht kapieren, was da gesagt wird, als würde das Kind das nicht verletzen.

Mehr als einmal. Und selbst einmal wäre schon einmal zu viel.

Nicht zu vergessen: Würden wir in unserer eigenen Welt leben, würden und müssten wir nicht so sehr gegen Ableismus kämpfen, wir müssten uns keine Gedanken darum machen, denn wir wären ja nicht davon betroffen. Denn in unserer Welt gäbe es sowas nicht. (Wobei: Internalized ableism is a thing ...)

Meine Güte! Leute, die sowas behaupten, sollten einfach sagen, dass wir sehr stark verträumt sind.

Was mich dabei auch stört ist einfach diese ... Entmenschlichung. Es kommt super entmenschlichend rüber, diese Aussage. Als wären wir irgendwelche mystischen Wesen. Wesen, die nicht greifbar sind, die nicht verstanden werden können. Wir sind so, so ... überaus mystisch. Ein Geist, ein Phantom, eine Entität, ein Konzept ... Nicht greifbar, nicht analysierbar, nicht verstehbar.

Klingt ziemlich eklig, wenn ich das so ausschreibe? Genau das ist es auch. Und genau so denke ich, jedes Mal, wenn ich diese Behauptung lese. Sie ist entmenschlichend.

Sie invalidisiert all unsere Aussagen - bzw. versucht sie es -, sie invalidisiert unsere autistic experience™, denn wenn wir z.B. sagen, dass es uns viel zu laut ist, tja, dann ist das "unser Problem", weil wir "in unserer eigenen Welt" leben und nur in "unserer eigenen Welt" ist das zu laut, für alle anderen nicht, und wir lernen müssen, darauf nicht so "empfindlich" zu reagieren. Ist es das, was Leute mit "lebt in seiner/ihrer eigenen Welt" damit ausdrücken wollen? Das würde es keineswegs weniger schlimm machen.

"Wir müssen euch nicht entgegenkommen. Ihr lebt in eurer eigenen Welt. In eurer Welt ist euch alles zu viel. Darauf müssen wir nicht eingehen. Das ist nicht unsere Pflicht." - ableist scumbag number 129.508.

Wir sehen die Welt definitiv anders. Die Welt. Die Welt, in der wir alle existieren. Und genau diese Welt bekommen wir oft weitaus intensiver mit, als viele neurotypische Menschen.

Wenn wir Autisten für Neurotypisten in unserer eigenen Welt leben, dann müssten Neurotypisten für uns Autisten ebenso in ihrer eigenen Welt leben.

Oh, da kommen wir wieder zu einem meiner Lieblingsthemen bei Autismus: Das Double-Empathy-Problem. Das kann so einiges erklären. Hier noch eine Quelle zu dem Thema.

Neurologische Unterschiede sind viel wichtiger, als viele es zugeben wollen.

Anmerkung: Meine Frustration war nicht an dich gerichtet, sondern an Menschen, die so denken und dieses verletzende Klischee weiter verbreiten - Insbesondere die, die noch immer daran festhalten, selbst nachdem man sie aufgeklärt hat.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Ich bin diagnostizierte Autistin (Keine Selbstdiagnose)👽

Ich kann es nicht mehr lesen:

Nein, wir Autisten nehmen zwar die Welt (oft) mit ihren Gerüchen, Geräuschen und Farben intensiver wahr, aber wir haben keine eigene Welt, in der wir leben (können).

Wenn du zum Beispiel am Himmel ein Flugzeug siehst und ich stehe neben dir, dann sehe ich dieses Flugzeug auch.
Vorausgesetzt, ich schaue nach oben.

Oder du stehst an einem roten Fahrzeug.
So werde ich das ebenfalls bemerken.

Wäre ich in meiner eigenen Welt, würde ich weder dich noch das rote Auto sehen.

Bei neurotypischen Menschen heißt es "ist in Gedanken versunken" statt "lebt in seiner eigenen Welt".

Wäre ganz nett, wenn Neurotypische die (scheinbare) gedankliche Abwesenheit von Autisten auch als "in Gedanken versunken" bezeichnen würden.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – ASS-Diagnose mit 50 / über 20 Jahren im Thema

Wir nehmen diese Welt anders wahr. Das es Parallelwelten / Multiversen gibt, daran glauben viele dran. Für einige Autisten ist das Thema Multiversum auch ein spannendes Thema und ich denke mal, dass auch einige Savant Klasse 1 Autisten in Parallelwelten wirklich reisen können.

Außerdem gibt es sicher draußen bei einer unendlichen Anzahl von Parallelwelten auch Welten, wo die Mehrheit Autisten sind und es gibt auch in einer Welt einen Autistengott ähnlich wie Evil Gregor Blau. :) Das ist aber dann eine völlig andere Welt, sprich Erde und nicht mehr unsere Erde, also kann man das nicht so vergleichen wie du geschrieben hast. ;)

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Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – https://www.autisten-partei.com
 - (Behinderung, Neurologie, Autismus)

Ja. Deshalb kommen sie ja häufig nicht zurecht, selbst in gewöhnlichen Gesprächen. Verstehen halt vieles im Wortsinn, verstehen dadurch vieles nicht und kommen sozial oft überhaupt nicht mit. Das führt bei Ihnen oftmals auch dazu, dass sie Fehler sehen wo wiederum oftmals keine sind und relevante Fehler im Gesamtkontext nicht mitbekommen. Bei Ihnen kommt vieles langsamer an und müssen Situationen im Nachhinein in sämtliche Richtungen zerdenken. Ich kenne ein paar und das merkt man auch im Schriftkontakt. Wenn sie da irgendwas feststellen, wozu sie gerade etwas gegenteiliges sagen möchten, ist es offensichtlich so, als wäre der ganze restliche Text weg. Wobei alles im weiteren Text aufgeklärt ist. Sie erkennen also das Große und das Ganze verdammt oft nicht. Das führt auch dazu, dass sie jemanden oft verbessern wollen, für sich wahrgenomme Ungenauigkeiten vor der Person äußern wo gar keine sind.

Und noch viele andere Dinge führen dazu, dass sie sozial nicht richtig mitkommen. Also ja, man kann wenn man selbst nicht davon betroffen ist sehr gut merken, dass ihre Welt eine etwas andere ist. Beim einen mehr, beim anderen weniger.