Psychisch am Ende ohne wirklichen Grund?


18.09.2024, 22:03

Hat sich gut angefühlt einfach mal alles rauszuschreiben

1 Antwort

Vom Beitragsersteller als hilfreich ausgezeichnet

Hallo Kolibri,

wenn man sich so fühlt wie du, gibt es dafür immer einen Grund. Die Ursache dafür, dass wir den Grund manchmal nicht erkennen, liegt darin, dass wir als Kinder und junge Menschen, so wie du es einer bist, zunächst keine andere Realität kennen als die, die uns unsere Eltern vorleben. Es gibt Kinder, die täglich von ihren Eltern geschlagen und misshandelt werden und denken, das sei normal und jedes andere Kind würde auch so von seinen Eltern behandelt werden.

Du hast nun nichts davon geschrieben, dass deine Eltern dich schlagen würden. Aber du hast geschrieben, dass deine Mutter auf deine Narben sehr abwertend reagiert hat ("Bist du bescheuert?"). Und du gibst an, dass deine Eltern nicht auf dich eingehen, obwohl es dir sehr offensichtlich schlecht geht.

Ich nehme daher an, dass du in einem Umfeld groß geworden bist, das nicht sehr einfühlsam und liebevoll war. Stelle dir mal folgende Fragen:

  • Mit wem von den beiden kannst du sprechen, wenn du traurig bist?
  • Wem von den beiden kannst du deine Sorgen anvertrauen?
  • Wie reagieren deine Eltern, wenn es dir nicht gut geht?
  • Wie reagieren deine Eltern, wenn du mal wütend auf sie bist?
  • Wie reagieren deine Eltern, wenn du mal schlechte Noten schreibst?
  • Wie reagieren deine Eltern, wenn du mal nicht machst, was sie wollen?

Wenn du auf die ersten beiden Fragen "mit keinem von beiden" antwortest und auf die restlichen Fragen nicht mit "Sie reagieren normalerweise einfühlsam/verständnisvoll", dann ist das ein Zeichen dafür, dass sie dir leider nicht geben können, was du brauchst. Denn jeder Mensch braucht Zuwendung, eine sichere Bindung und das Gefühl, wertgeschätzt zu werden. Das ist ein Grundbedürfnis unserer Psyche.

Wenn dieses Bedürfnis dauerhaft nicht erfüllt wird, dann kommt es zu jenen Gefühlen, wie du sie beschreibst. Man fühlt sich schlecht, niedergeschlagen, leer, traurig, möchte sich wehtun, sich selbst bestrafen. Dazu müssen deine Eltern dir keine körperliche Gewalt antun. Es gibt auch seelische Gewalt. Das ist natürlich ein harter Begriff. Und vielleicht meinen sie das nicht böse. Vielleicht können sie es nicht besser, weil sie es selbst so von wiederum ihren Eltern, deinen Großeltern, so gelernt haben. Vielleicht wurden sie als Kinder ähnlich behandelt, wie sie heute dich behandeln. Doch der Grund, weshalb sie das tun, ist eigentlich egal: Es hinterlässt so oder so Spuren bei dir. Sehr tiefe, schmerzhafte Spuren.

Die Frage danach, ob es anderen nicht noch schlechter geht, ist einfach zu beantworten: Ja, natürlich! Es wird immer Menschen geben, denen es noch schlechter geht. Aber darf der Mensch, der sein Kind in einem Feuer verloren hat, nicht trauern, weil ein anderer Mensch seine zwei Kinder in einem Feuer verloren hat? Darf ein Mensch, der einen Tumor im Anfangsstadium hat, nicht Angst haben, weil ein anderer Mensch einen Tumor im Endstadium hat? Und darf ein Mädchen, das von seinen Eltern hört, es sei bescheuert, nicht traurig und verletzt sein, weil ein anderes Mädchen von seinen Eltern geschlagen wird?

Was ich sagen will: Leid ist nicht vergleichbar. Wirklich nicht. Wir leiden, wenn ein Bedürfnis nicht erfüllt wird. Dabei ist es egal, ob ein, zwei oder fünf Bedürfnisse nicht erfüllt werden - wir leiden. Und dieses Leid ist wichtig. Denn es macht uns darauf aufmerksam, dass ein Bedürfnis nicht erfüllt wird. Stell dir vor, ein Mensch würde seinen Hunger missachten, weil ein anderer Mensch Hunger und Durst hat - das ist doch viel schlimmer, oder nicht? Doch dieser Mensch würde nicht überleben. Denn sein Hunger macht ihn darauf aufmerksam, dass er etwas essen sollte, sonst stirbt er. Da ist es egal, ob ein anderer Mensch Hunger und Durst hat.

So ähnlich ist es mit der Psyche. Sie macht dich darauf aufmerksam, dass du hungrig bist. Nach Wärme und Verständnis. Das ist normal. Das wünschen sich alle Menschen auf dieser Welt. Es ist schade, dass deine Eltern dir das nicht geben können. Denn dein Hunger danach wird bleiben, und das ist wichtig. Gehe also auf die Suche nach Menschen, die diesen Hunger stillen können. Die dir Verständnis entgegenbringen. Die sich Zeit für dich nehmen. Die dir zuhören. Die dich mal in den Arm nehmen, wenn es dir schlecht geht.

Eine Psychotherapie kann dieses Bedürfnis nach Wärme und Verständnis vorübergehend erfüllen und dir vor allem auch Methoden an die Hand geben, mit diesem dunklen Gefühl umzugehen und positive Menschen zu finden und in deinem Leben zu integrieren. Sozusagen Hilfe zur Selbsthilfe. Bezüglich der Verbeamtung (du bist doch erst 15?) müsstest du das vorab einmal mit dem Therapeuten oder der Therapeutin klären. Es gibt aber auch Beratungsstellen, zu denen du gehen kannst, dort werden keine Diagnosen gestellt.

Ich hoffe, ich konnte dir ein wenig vermitteln, warum es dir möglicherweise nicht gut geht und wie du einen Weg da rausfinden kannst.

Ich wünsche dir alles Gute!

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Psychologin

Kolibri650 
Beitragsersteller
 19.09.2024, 05:38

Vielen Dank für deine ausführliche Antwort und dass du dir die Zeit genommen hast🫶