Bleiben Russischsprachige oftmals privat unter sich?

4 Antworten

Ich lebe in Hamburg, Barmbek-Nord, und mein Hausarzt ist Deutsch-Russe.Ein sehr guter Arzt. In seiner Praxis wird fast nur russisch geschnattert, fast alle Patienten sind wohl Russen. Draußen sind mir fast nie irgendwelche Russen aufgefallen. Von daher vermute ich, dass es hier eine sehr gut getarnte, versteckte russische Community gibt. Nur einmal ist mir etwas aufgefallen: Ich ging spätabends an der Straße entlang und sah von hinten ein geparktes Auto, auf dessen Beifahrersitz jemand saß. Im Schein der Straßenlampen sah ich von hinten, dass er seinen rechten Unterarm rhythmisch auf und ab zu bewegen schien. Ich dachte: iih, was für ein Ferkel, was macht der denn hier in aller Öffentlichkeit? Als ich dran vorbei war kostete es mich Mühe und Überwindung, mich umzudrehen und nochmal von vorn hinzugucken. Er spielte auf einer Balalaika.


lemon30 
Beitragsersteller
 26.08.2024, 23:29

Vielen Dank! Ich bin über die Jahre auf Grund meiner Erfahrungen wahrscheinlich diesbezüglich sensibler geworden, aber mir fällt im Alltag sehr häufig auf, dass Menschen sich auf Russisch unterhalten, wenn ich durch die Straßen laufe. Früher habe ich dies nicht bemerkt.
Das Balalaika-Spielen kenne ich auch, interessante Geschichte, vielen Dank!

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Ich spreche kaum noch Russisch im Alltag, auch in meiner sehr großen, weitverzweigten russlanddeutschen Verwandtschaft tut das kaum noch jemand. Die jüngeren, die damals als Kinder herkamen ( und die jetzt auch schon alle ü40 sind) können das gar nicht mehr richtig. Aber es stimmt schon, die "Russaken" (so nennen wir stark russifizierte Russlanddeutsche mitsamt nichtdeutschem Anhang) bleiben meist unter sich. Dann gibt es noch eine große russischsprachige jüdische Community hier. Die machen auch ihr Ding. Und dann natürlich noch alle möglichen Leute, die hier nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von überall her aus den Ex-Republiken angespült wurden. Das Russische ist halt das alles verbindende Element. Wenn ich einen litauischen Bildhauer-Freund hier in seinem Atelier besuche und aus den Boxen Viktor Zoi oder Zwuki Mu dröhnen, dann ist es für mich auch ein bisschen wie nach Hause kommen. Wir reden schon längst Deutsch miteinander, so gut Russisch kann er auch nicht mehr. Aber die Musik bleibt als Erinnerung an die Zeit, wo wir beide gleichzeitig aber an verschiedenen Enden des Riesenreichs groß geworden sind.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

lemon30 
Beitragsersteller
 27.08.2024, 18:15

Vielen Dank! Unabhängig von der Sprache, hast Du einen gemischten Freundeskreis? Also auch wirklich nähere deutsche Freunde?

Weil von der Sprache her schrieb ich ja, dass alle Personen, die ich kennenlernte, perfekt integriert waren. Es ist also keine Sache der Fähigkeiten, sondern - so wie ich es erlebt habe - eher eine Entscheidung, sich hauptsächlich mit Personen aus dem gleichen Kulturkreis zu umgeben. Sozusagen русский мир в Германии. Für sie war das ja kein Problem. Aber ich kam mir ehrlich gesagt als rein Deutscher ohne verwandtschaftliche oder kulturelle Bindung an die russischsprachigen Länder irgendwann ausgegrenzt vor. Auf eine gewisse Art gab es eine unsichtbare Barriere. Und das fand ich sehr schade. Ich habe eine Vielzahl von Bekannten aus den unterschiedlichsten Ländern, und ich würde mich eigentlich immer bemühen, Personen zu integrieren und verbindende Elemente zu suchen, wenn sie zu einer Gruppe neu dazustoßen. Aber meine Exfreundin unternahm selbst über Jahre eigentlich keinen wirklichen Versuch, mich einmal wirklich in ihren Bekanntenkreis einzubinden. Das waren wirklich zwei getrennte Welten, und ich habe nie verstanden, warum eigentlich.

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letatlin  27.08.2024, 18:41
@lemon30

Ich habe keine russischen Freunde, klassische Russlanddeutsche sind auch noch ein Ding an sich, man spricht Deutsch auch zu Hause und untereinander, bleibt aber trotzdem unter sich, da sind verwandtschaftliche Bindungen und Beziehungen sehr wichtig, "russki mir" meidet man eher, dafür ist man nicht nach Deutschland gekommen. Da ich mit einer einheimischen Frau verheiratet bin, kenne ich über sie natürlich einige "Biodeutsche", aber richtig befreundet bin ich mit ihnen nicht. Da liegen doch Welten dazwischen. Mit meinem litauischen Bildhauerfreund habe ich neulich einen 18km langen Spaziergang gemacht, wir haben uns die ganze Zeit über Gott und die Welt, Religion und tiefe mystische Themen unterhalten. Litauer sind sowieso totale Mystiker und mein Kumpel hat auch in seinem früheren Leben in Litauen Theologie studiert. Sowas ist mit kaum einen Deutschen möglich, man unterhält sich übers Essen, Urlaub eventuelle Kino-, Theater - oder Konzertbesuche, man denkt, es wird irgendwann mal besser, wenn man sich näher kennenlernt, aber es wird nicht besser. Deswegen halten sich meine Kontakte mit Einheimischen auch in Grenzen.

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letatlin  27.08.2024, 20:29
@lemon30

Was mir noch eingefallen ist: die meisten Freunde meiner Frau kennen sich seit dem Kindergarten, Grundschule oder spätestens der Oberstufe, das ist auch ein Kreis, da kommst du nicht mehr rein. Auch wenn sie alle nett und freundlich und tolerant sind. Das ist genau wie bei dir und den russischen Freunden deiner Ex. Andererseits mit den Leuten aus deinem eigenen Kulturkreis bist du manchmal befreundet, obwohl du genau weißt, drüben wärst du das nicht. Aber hier spielt das keine Rolle mehr, hier suchst du nach Leuten, die dir ähnlich sind, mit denen du den gleichen Erfahrungshorizont teilst und die dich sofort auf einer tieferen Ebene verstehen auch ohne Worte, und das sind ja meistens automatisch deine Landsleute. Das ist bei den deutschen Auswanderern im Ausland nicht anders.

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lemon30 
Beitragsersteller
 27.08.2024, 23:28
@letatlin

Ja, in der Expat-Community ist das tatsächlich nicht so viel anders. So hatte ich dies noch nicht betrachtet, vielen Dank! Wobei ich diese auch als 'Bubble' bezeichnen würde, und ich persönlich wäre auch für Freundschaften außerhalb solcher Gruppen offen.
Wenn Menschen aber letztendlich stärker unter Ihresgleichen bleiben möchten und damit glücklich sind, ist es letztendlich ja auch für sie in Ordnung. Vielleicht bin ich auch einfach lediglich traurig darüber, wie viel Zeit meine Exfreundin in ihrer 'Community' verbrachte, im Vergleich zu unserer Beziehung. Ich hätte mir einfach gewünscht, dass ich auch ein bisschen stärker einbezogen worden wäre und mich nicht nahezu ausgegrenzt gefühlt hätte. Offen dafür wäre ich gewesen…

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letatlin  28.08.2024, 09:45
@lemon30

Ja, meine Familie war seit 1823 im damals noch zaristischen Russland in der Ukraine ansässig. Ich bin 1976 geboren und bin die erste Generation, die sozusagen von Anfang an bilingual mit Deutsch und Russisch aufgewachsen ist. Meine Mutter wurde 1961 praktisch ohne Russischkenntnisse eingeschult. Ich fragte sie: Wie ging das denn? In der sibirischen Verbannung, wo alles Deutsche nach dem Krieg verboten war? Ja, alles schön leise und flüsternd, damit die Russen das nicht mitkriegen. Die vorangegangenen Generationen konnten teilweise gar kein Russisch. Wenn ich Kumpels zu Besuch hatte und meine Uroma Schwäbisch mit mir sprach oder gar versuchte mit mir gebrochen Russisch zu sprechen und meine Kumpels mich fragten, was mit meiner Oma los ist, habe ich gesagt: sie kommt aus der Ukraine. Sie hielten dann wohl Schwäbisch für einen ukrainischen Dialekt.

Es ist aber auch nicht nur bei Deutschen oder bei den Russen so. Ich wohne hier auf dem Kiez in einem sehr stark migrantisch geprägten Stadtteil. Hier hockt jeder in seiner Bubble drin. Und es gibt kein übergeordnetes etwas, wo sich alle irgendwie zugehörig fühlen, wie in den USA, wo sich alle immerhin als Amerikaner betrachten. Eine deutsche Kartoffel will hier keiner sein, ob mit oder ohne Pass. Das kannst du vergessen.

Das funktioniert alles auch nur solange, solange hier alles schön und gut ist. Wenn's irgendwann mal nicht mehr so ist, wird es sich zeigen, ob ein Haufen Parallelgesellschaften nebeneinander in der Lage sind gemeinsam eine schwere Krise zu bewältigen.

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lemon30 
Beitragsersteller
 28.08.2024, 10:14
@letatlin

Lol, 'deutsche Kartoffel' 😄 Was habt Ihr alle gegen Deutsche? Ich sehe mich eigentlich als sympathischen Menschen 😄

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letatlin  28.08.2024, 12:07
@lemon30

Na dann bist du halt eine sympathische Kartoffel. Das bin ich ja auch, aber eine spezielle sibirische Züchtung, besonders frostresistent, würde ich mal sagen. 😁 Ohne Kartoffeln ging bei uns hinter dem Ural gar nichts. Das war das wichtigste Grundnahrungsmittel. Jeder hatte einen großen Kartoffelacker hinter dem Haus. Deswegen ist für mich das Wort Kartoffel ein Synonym für unentbehrlich.

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Ja mag sein bin selber deutsch Russe, meine beiden Freunde sind Russen, gehen auch auf einer Russischen Schule und sind sehr gut gebildet, sprechen nur russisch. Bin auch von einem Russen, der einige (deutsche Freund) mit halben Wurzeln Russlands, kann ich mich auch besser unterhalten, als mit deutschen. Sprechen auch erwachsen und sagen nicht solche Worte, wie "Digger", "Was?","Hä" Wir bzw. sie sind auf ihrer kultur Stolz, da ich auch wie ein Russe aussehen, verstehe ich mich meistens mit ukrainerinnen gut und sind an mir interessiert ich genauso würde auch wieder eine Ukrainerin oder Russin nehmen. Ich selber habe auch längst Telegram mit Ukrainische Russischen Kanälen und hören auch russische Musik.


lemon30 
Beitragsersteller
 26.08.2024, 23:12

Danke für die Sichtweise eines Russischsprachigen!

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Ricardox3  26.08.2024, 23:13
@lemon30

Ich kann leider kein Russisch. Aber hab viel damit zutun und verstehe viele Wörter, da ich immer Videos schaue ;)

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Ja, ich kann ein wenig russisch und habe es tatsächlich öfter erlebt.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Bin Hebephil - bin 23 und mit einer 14 Jährigen zusammen