Edgar Allen Poe: "Der Mann der Menge"

2 Antworten

Eine rätselhafte Geschichte, die an Kafka erinnert.

Angezogen wird der Erzähler von dem aus seiner Sicht teuflischen Gesichtsaudruck des Alten. Er will das Geheimnis des Bösen lüften, was ihm nicht gelingt.

Das Böse zeigt sich hier nicht in spektakulären Verbrechen, sondern in der Sucht des Menschen, sich anonym und beziehungslos in Menschenmassen zu bewegen. Selbst wenn ihn der Verfolger zwingt, ihn anzusehen und zu reagieren, tut er das nicht. Der Massenmensch verweigert Beziehung, er ist unfähig zu Beziehung, er dreht sich nur um sich. Gleichzeitig hält er Alleinsein nicht aus, ja er gerät in Panik, wenn er einsam ist. Mit sich allein zu sein ist für ihn die Hölle. Ruhelos und getrieben sucht er nicht Menschen, sondern die reine Masse.


Martin643 
Beitragsersteller
 04.09.2024, 12:20

Das hätte selbst ich nicht besser formulieren können. Aber ich finde nicht, dass die Hauptfigur am Anfang der Anblixk seines teuflischen Gesichts trieb. Es ist nahezu unbeschreiblich, aber ich hatte eher das Gefühl, es sei die "Liebe zum Unbekannten". Denn ganz offensichtlich hatte er so einen Menschen bisher noch nie gesehen. Ich denke außerdem, dass es seine Faszination sehr anheizen, dass der Mann zwar abgetragene Sachen trug, jedoch darunter sowohl einen Diamanten, als auch einen Dolch.

neinxdochxoh  04.09.2024, 12:33
@Martin643

Ja, das ist mit dabei. Der Erzähler ist ja ein Flaneur, der gerne Menschen beobachtet, also neugierig ist. Das sehe ich wie du. Dolch und Diamant reizen ihn sicher auch. Das sehe ich als Teil des Teuflischen (Gewalt und Geld bei ansonsten lumpigem Äußeren).

Martin643 
Beitragsersteller
 04.09.2024, 13:41
@neinxdochxoh

Gut möglich. Diese Verbindubg zwischen Gewalt und Geld — also der Diamant und der Dolch — könnten auch metaphorisch gemeint sein. Ich bin mir nicht sicher, wie es damals so war, aber heute gehen diese beiden Eigenschaften ja oft Hand in Hand einher. Vielleicht wollte Poe darauf aufmerksam machen, auch wenn das kein Thema ist, das in der Geschichten im Vordergrund steht.

Aber als Mann der Masse versucht der alte Mann, sich mit seinen Lumpen dem niederen Volk zu fügen. Mit ihm zu verschmelzen. Weder den Dolch noch den Diamanten soll man in der Menge wahrnehmen.

Btw. Den Ausdruck "Flaneur" würde ich nicht gerade mit der Hauptfigur verbinden. Dass sie die Leute beobachtet und alles, da stimme ich dir zu. Das tue selbst ich manchmal und nenne es dann "Hobbyprofiling" (macht echt Spaß). Aber ein Flaneur läuft durch die Gegend und beobachtet eventuell dabei jemanden. Aber in erster Linie ist ein Flaneur ja eine Art planloser Spaziergänger. Der Erzähler allerdings sitzt anfangs in einem Café, von wo aus er durch die Gläswände die breite Masse beobachtet.

Diese hübsche Erzählung kann man auf vielerlei Weise zu deuten versuchen, worauf einzugehen mir hier Platz und Zeit fehlt. Als Gedankenanregung: Mir stellte sich immer die Frage, inwieweit Poe selbst denn hier einer wirklich konkreten Idee folgte, wirkt der Text doch im Vergleich zu vielen anderen seiner Werke überraschend vage (was keinesfalls negative Kritik sein soll, im Gegenteil). Ich habe nach wie vor den Verdacht, dass es ihm hier in erster Linie um das literarische Experiment ging, zwei zu seiner Zeit gerade populär gewordenen Themen der Literatur (einerseits den beobachtenden, voyeuristischen Stadtmenschen, andererseits den ewig rastlosen, unsteten, beinahe flüchtigen, Wanderer) in Beziehung zu setzen, ergo: unter einen Hut zu bringen.

lg up

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Praktische Erfahrung, Fortbildungen

Martin643 
Beitragsersteller
 04.09.2024, 12:23

Das wäre eine Möglichkeit, an die ich vorher noch gar nicht gedacht habe. Aber gerade aufgrund dieser vagen Art macht es besonders Spaß, über den tieferen Sinn dahinter zu diskutieren. Jeder hat eine andere Sicht auf diese Geschichte und ich könnte mich da stundenlang mit jeder literarisch bewanderten Person auf diesem Planeten unterhalten