War Schopenhauer Antisemitisch?

4 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Nein, sondern eher schon „antijudaistisch“, d. h. Kritiker der in Tanach und Talmud verankerten Religion der Juden. Als Prediger der Mitleidsmoral störte Schopenhauer das optimistische Geschichtsbild dieser Religion, das ihm angesichts des „irdischen Jammertals“ wie der Spott kalter Psychopathen auf das reale Leid der Menschheit wirkte.

Auch dem Realismus und logikbetonte Rationalismus der jüdischen Lehre konnte der romantische Willens-Metaphysiker Schopenhauer wenig abgewinnen, wie er ja auch den französischen Rationalismus und den englischen Empirismus als seicht und geistlos empfand. Schopenhauer lebte ganz und gar in den philosophischen Traditionen Indiens, Deutschlands und Griechenlands.

Er hat die jüdische Religionslehre aus dem Avesta der altpersischen Religion des Zoroaster ableiten wollen. Diese Theorie vertrat zu seiner Zeit der Privatgelehrte Johann Gottlieb Rhode (1762 – 1827) in seinem Buch „Die heilige Sage und das gesammte Religionssystem der alten Baktrer, Meder und Perser und des Zendvolkes". Schopenhauer hält nun diese altpersische Religion schlichtweg für falsch, da seiner Ansicht nach die Welt selbst nicht unmittelbare Realität, sondern zunächst nur durch die Struktur unserer Sinne und unseres Verstandes strukturierte Vorstellung ist. Aus dieser Anschauung hatte Kant die Unerkennbarkeit des „Dings an sich“ abgeleitet, das unabhängig von unseren Sinnen und unserem Verstand ist und welches die tatsächliche Welt darstellt. Schopenhauer aber will im „Willen“ dieses „Ding an sich“ ausgemacht haben, wobei er mit „Willen“ nicht den Willen im landläufigen Sinne als vom Verstand gemachten Entschluss und den Impuls zu dessen Umsetzung meint, sondern etwas gänzlich anderes, nämlich ein ebenso ziel- wie freudloses ewiges Wähnen und Ringen der einzelnen hinter den Erscheinungen steckenden Elemente miteinander, eine Art unstrukturierten Urtrieb des Seins an sich, der durch das principium individuationis (Vereinzelungsprinzip) in den Einzelwesen nur verkörpert ist, aber nicht die Summe derselben ist, das diesen zugrunde liegende Prinzip.

Daher ist in Schopenhauers trostloser Metaphysik ein teleologisches Weltbild, wie es die abrahamitischen Religionen lehren (vom Sündenfall zum „jüngsten Gericht) gar nicht denkbar und solche Lehren erscheinen ihm als unredliche Quacksalbereien von Priestern, um damit ganze Völker moralisch erpressen zu können. Tatsächlich hat das Sein in seiner Gesamtheit keinen Sinn, doch der Einzelne kann seinem Leben ein Sinn geben bzw. zur persönlichen Erfüllung kommen, wenn er den „Willen“ verneint, d. h. sich aus dem Wähnen und Wollen eines aktiven Tatlebens zurückzieht und in Kunst und der freien Geistigkeit interesseloser Anschauung das Wesen der Welt, also den „Willen“, erkennt. Das glaubt Schopenhauer für sich getan zu haben und diese Motivation sieht er auch bei den großen weltflüchtigen Asketen, Einsiedlern, Yogis usw. aller Religionen, besonders der indischen (Brahmaismus, Hinduismus und Buddhismus).

Das Judentum also, seiner religiösen Seite nach betrachtet, lehrt nun faktisch ausschließlich eine Lehre für diese Welt, um in dieser bestehen und sich durchsetzen zu können. Es ist teleologisch, da Jahwe seinem „auserwählten Volk“ in der Thora („Weisung“ oder „Gesetz“) die Herrschaft über alle Völker versprochen hat:

"Wenn du nun der Stimme des HERRN, deines Gottes, gehorchen wirst, dass du hältst und tust alle seine Gebote, die ich dir heute gebiete, so wird dich der HERR, dein Gott, zum höchsten über alle Völker auf Erden machen." (5. Buch Mose, 28, 1)

Und das Judentum ist optimistisch, weil Jahwe seinem „auserwählten Volk“ diese Herrschaft mit apodiktischer Sicherheit verspricht, solange sich die Juden an dessen Gebote halten. Es ist also dem Ansatz nach bereits reiner Pragmatismus für ein Wirken in dieser Welt und ohne Unsterblichkeitslehre. Schopenhauer urteilt darüber streng:

„Die eigentliche Judenreligion, wie sie in der Genesis und allen historischen Büchern, bis zum Ende der Chronika, dargestellt wird, ist die roheste aller Religionen, weil sie die einzige ist, die keine Spur von Unsterblichkeitslehre hat.“ (Parerga und Paralipomena, Band I, 137 fg. Anmerkung.)

Schopenhauer wertet dies aber nicht platt-moralisierend als „bösartige Machtlehre“, wie es die typischen Antisemiten gewöhnlich herauslesen, sondern eher als metaphysischen Irrtum aus fehlendem Überblick über das Gesamtwesen der Welt. Die Juden als Volk sind nach ihm nicht wie bei den Antisemiten Täter, sondern Opfer, da ein "durch Wahn beherrschtes, von den gleichzeitigen großen Völkern des Orients und Okzidents verachtetes Winkelvolk." (Welt als Wille und Vorstellung. Band I, S. 274.)

Er ist also ein grundsätzlicher und unversöhnlicher Kritiker des metaphysischen Gehaltes der jüdischen Lehre, aber kein moralisierender Verurteiler der „bösen Juden“, wie es klassische christliche oder christlich-moralische Antisemiten gewöhnlich waren und sind. Stattdessen sieht Schopenhauer konsequent auch im Christentum und im Islam dieselbe metaphysische Flachheit in Bezug auf die Erkenntnis des wahren Wesens der Welt, wobei in diesen Religionen aber noch eine Inkonsequenz des Denkens hinzukommt, da diese beiden späteren Abarten des jahweistischen Monotheismus anderseits sehr wohl die persönliche Unsterblichkeit lehren: Wenn es nämlich einen Schöpfergott gibt, die einzelne Seele aber unsterblich ist, so müsste die Zahl der Seelen im Jenseits mit der Zeit ad infinitum anwachsen, was absurd erscheint. Auch mittelalterlich-scholastische „Gottesbeweise“ oder den gruseligen Versuch Calvins, die Erkenntnis über die Determiniertheit allen Geschehens mit dem Jenseitsglauben in Einklang zu bringen (Himmel und Hölle sind bei Calvin von Geburt an vorherbestimmt), lehnt Schopenhauer kategorisch ab. Ebenso den Versuch Hegels, die christliche Teleologie auf ein Fundament zu stellen, das die christliche Kirche als Fundament gar nicht mehr benötigt, sowie alle nicht eigentlich religiösen Lehren, die sich auf dieses Grundskelett der hegelschen Teleologie berufen, wie z. B. den Marxismus. Schopenhauers Verachtung für alle diese Diesseitslehren ist, wenn meine seine Werke liest, eine der Triebkräfte seiner geistigen Leidenschaft.

Für Schopenhauer gibt es eben keine „reale, diesseitige Welt“ und somit auch kein „Ziel“, auf welches diese hinstreben würde. Alles, was wir für real halten, ist bei ihm nur Schleier der Maya und Vorstellung des Einzelnen, hinter welcher aber als Ding an sich nur ein zielloser, also durch keine teleologische Lehre zu erfassender „Wille“ steht.

Wenn Schopenhauer die realen Auswirkungen der Anbetung des alleinigen Gottes Jahwe kritisch beäugt, so sieht er als Ursache derselben nicht in einem negativen Charakter des jüdischen Volkes für sich, sondern eine Auswirkung eben des Monotheismus als solchem, ein Problem also, welches das Judentum ganz und gar mit seine beiden Sprößlingen teilt:

„Intoleranz ist nur dem Monotheismus wesentlich; ein alleiniger Gott ist seiner Natur nach ein eifersüchtiger Gott, der keinem andern das Leben gönnt. Daher sind es die monotheistischen Religionen allein, also das Judentum und seine Verzweigungen, Christentum und Islam, welche uns das Schauspiel der Religionskriege, Religionsverfolgungen und Ketzergerichte liefern, wie auch das der Bilderstürmerei und Vertilgung fremder Götterbilder u. s. w.“ (Parerga und Paralipomena. Band II, 382—384.)

Somit ist Schopenhauer kein „Antisemit“, im Grunde auch nicht dediziert „Antijudaist“ (also nur Kritiker der jüdischen Lehre alleine), sondern vielmehr „Antimonotheist“.

Gewiss hat auch Hitler Schopenhauer gelesen und geschätzt. Jedoch scheint der grobe, pragmatische Verstand des „Führers“ gar nicht dessen metaphysischer Grundlage folgen wollen oder können. Hitler hätte besser daran getan, sich noch weiter in Schopenhauer zu vertiefen und dessen Empfehlung auf Willensverzicht folgen sollen, doch war ihm dies offensichtlich nicht möglich, war er selbst doch viel zu sehr Ausdruck des blinden Willens und sein ganzer energischer Kampf gegen die weltliche Macht des Judenvolkes selbst die denkbar treffendste geschichtliche Illustration für die Richtigkeit von Schopenhauers Anschauung von eben der Blindheit und Sinnlosigkeit dieses Willens. –

Ich denke Schopenhauer hat zumindest an gewisse Stereotypen geglaubt, beispielsweise den Irrglauben alle Juden seien wohlhabende Geschäftsleute, das liest sich aus mehreren Werken heraus. Richtigen Antisemitismus würde ich ihm jedoch nicht unterstellen. Man muss solche Menschen auch immer im Kontext ihrer Zeit sehen, und das war nunmal eine Zeit in der die Mehrheit der europäischen Bevölkerung Vorurteile und falsche Vorstellungen über Juden hatte. Unabhängig davon, spielt es aber auch eine untergeordnete Rolle, da die Frage ob ein verstorbener Mensch Antisemit war, das Problem in die Vergangenheit verlagert, und somit weg von uns und unserer Gesellschaft.


Flagon705  19.05.2024, 22:44

Schopenhauer war Antijudaist, d. h. Kritiker der israelitischen (jahweistischen) Religion, weniger "Antisemit", also Kritiker bzw. Gegner der real lebenden Juden seiner Zeit. Er hat den Realismus des Talmud als flach-weltlich und den Optimismus des Tanach als moralisch verwerflich betrachtet, aber ihm war sicher klar, dass nicht alle Juden diese seinen Studien nach gefährliche Ideologie auch wirklich ernst nehmen.

0

Antisemit ist jemand, der den Juden das Recht auf Leben und auf eine Heimstatt (z.B. im Staate Israel) abspricht. Wer sie aber als fremdes, orientalisches Volk ansieht, das "daher stets nur als ansässige Fremde gelten" kann (Schopenhauerzitat), ist kein Antisemit. Auch wer eine Abneigung gegenüber Juden äußert (so in dem Schopenhauerzitat), ist kein Antisemit. In dem Wort 'Antisemit' steckt eine gewisse bis starke Aggressivität; derjenige, der ein Antisemit ist, möchte den Juden irgendwie "ans Leder" gehen. Das wollte Schopenhauer aber nicht, widerspräche auch seiner Philosophie des Mitleids.

Woher ich das weiß:Recherche

Flagon705  19.05.2024, 22:48

Würde nicht sagen, dass jeder "Antisemit" den Juden das Recht auf Leben abspricht, das tut vielleicht nur ein winziger Promillesatz von ihnen. Das Recht auf eine eigenen Staat sprechen klassische "Antisemiten" (wie z. B. die Nazis) den Juden nun gerade nicht aus, denn diese sind ja gerade darin interessiert, dass die Juden aus ihren eigenen Völkern auswandern und sich in einem eigenen Staat ansiedeln, was innerhalb der Judenheit die sogenannten Zionisten anstreben.

Den Juden das Recht auf eine eigene Heimstatt abzusprechen nennt man stattdessen Antizionismus.

1

Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, die heutige Kategorie "Antisemitismus" auf den Beginn oder die Mitte des 19ten Jahrhunderts anzuwenden.