Hier wird eine ganze Menge missverstanden, was aber auch nicht ungewöhnlich ist. Wer meint den Kant verstanden zu haben, der hat ihn eigentlich meistens nicht verstanden. Nein, Kant lieferte keinen Gottesbeweis, aber ebenso wenig widerlegte er Gott. Kant ist Agnostiker (d.h.: "Vielleicht. Wir wissen es nicht"). Kant verwendet ein transzendentales Argument. Er sagt nicht: "Es gibt einen Gott" und er sagt auch nicht: "Es gibt keinen Gott".
Richtig hast du schon mal eingesehen, dass Kant hier zwischen theoretischer Vernunft und praktischer Vernunft unterscheidet. Den Fehler, den du allerdings begehst ist, dass du das Wörtchen "Beweis" mit praktischer Vernunft verbinden willst, die aber keine Beweise aufstellt, sondern Postulate (oder Axiome). Von einem "Beweis" kann hier also keine Rede sein. Ebenso wenig kam es zu einer Erkenntniserweiterung (sog. synthetisches Wissen a posteriori).
Die theoretische Vernunft beschäftigt sich mit dem, was ist, und versucht, Wissen über die Welt (und sich selbst) zu erlangen (also synthetisch). Sie operiert mit apriorischen und empirischen Daten und logischen Schlüssen. In diesem Kontext spricht man von Beweisen. Einen Gottesbeweis gibt es in der theoretischen Vernunft nicht. Man kann allenfalls die Idee Gottes formulieren, in der man zumindest sagen kann: Ein Gott ist zumindest realiter denkbar, dann muss er aber im Einklang mit der Naturordnung stehen und darf dieser nicht widersprechen. Das heißt, wenn Gott sich bemerkbar machen würde in der Natur, dann kann er das nur innerhalb der Naturgesetze und kein Deus ex machina sein. Allerdings ist das eben nur ein Denkexperiment. Kein Beweis. Gott lässt sich weder beweisen noch widerlegen.
Die praktische Vernunft hingegen befasst sich mit dem, was sein soll, und leitet Handlungen und moralische Entscheidungen an. Sie operiert nicht mit Beweisen, sondern mit moralischen Postulaten. Das ist etwas ganz anderes. Kant verwendet hier den Terminus: "Als ob". Man handle so, "als ob" es einen Gott (bzw. moralischen Gesetzgeber) gäbe. Man handle so, "als ob" die Seele unsterblich wäre, usw. Das ist kein Gottesbeweis, ebenso wenig ein Beweis für die Seele. Aber diese Postulate sind praktisch notwendig um moralisch handeln zu können. Dabei muss man auch gar nicht an Gott glauben und trotzdem sind diese Postulate a priori gegeben, denn auch ein Atheist hat eine bestimmte Vorstellung eines moralischen Gesetzgebers. Das muss dann kein Gott sein, sondern kann ebenso gut auch reine ideelle Vorstellung sein von Etwas, das vollkommen moralisch handelt und ist.